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Unter Der Sommersonne
Manu Bodin
Franck trifft Svetlana in den Gängen der Pariser Metro. Beide wissen noch nicht, dass ihre Begegnung der Ausgangspunkt für eine schwierige Liebe sein wird. Ihr Verlangen und ihr Zögern werden unausweichlich Leid und Schmerz hervorrufen.
Diese Geschichte erzählt von der emotionalen Entwicklung zwischen einer jungen Frau, die noch nicht genug erlebt hat und einem 10 Jahre älteren Mann, beginnend mit einer leidenschaftlichen Liebe bis hin zur Zurückweisung des geliebten Menschen. Während der Eine Liebe und Stabilität sucht, hinterfragt sich die Andere und verliert sich auf dem Weg. Angst, Zweifel und Furcht folgen aufeinander bis die Verbundenheit, die sie vereint hatte, verdrängt wird. Täuschungen, Versuchungen und Eifersucht geben der Beziehung schließlich den Todesstoß. Die Suche nach dem Glück ist mühselig und voller Überraschungen, ein heiteres Chaos, das durchlebt werden muss.
Unter der Sommersonne ist Emmanuel Bodins zweiter Roman. Die Geschichte erzählt von den selben Menschen, wie sein vorangegangener Roman Tout reste à faire und ist zeitlich davor einzuordnen: Die erste Liebesbeziehung der beiden Hauptpersonen.


Manu Bodin

Unter der Sommersonne
roman
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Stork
„Aber sich zu verlieben, ist ja auch eine ganz schön unvernünftige Angelegenheit. Ganz plötzlich aus heiterem Himmel kann es dich packen. Schon morgen.“
Haruki Murakami
Für dich…

1  Kapitel 1 (#ud8933fd9-47db-59a6-a427-91ed2912b1cf)
2  Kapitel 2 (#u1946b585-98b3-569c-930f-5a18eee1014e)
3  Kapitel 3 (#uf6c29595-fbab-529d-9381-7258524250b6)
4  Kapitel 4 (#uffdaf8e9-f4bb-52d1-b4af-17ba3a1abef9)
5  Kapitel 5 (#u9c2c2538-0ac3-55c6-ba7e-0fe51127c260)
6  Kapitel 6 (#ub427c90e-2eab-54c8-8ec5-30bf7d884cf3)
7  Kapitel 7 (#uebc17bb8-3446-5357-a33f-42bc70ac8907)
8  Dank (#ud2c531b5-1972-5a26-8b70-bc5f340225c1)
9  Andere Werke vom Autor (#u133f2419-79ca-59e1-9765-0813d148ccf3)
10  Über das Buch (#u770b88dd-3d85-50d0-82fd-2ab8e6d8166e)
11  Copyright (#ue573bcca-5aef-5d8f-9d87-e1cf324f32f1)

1.
An diesem Morgen, in diesem banalen Moment des Abschieds, der ihm wie ein Lebewohl vorkam und ihm deshalb schicksalhaft erschien, hatte er gedachte, dass er sie das letzte Mal umarmte, ihre Hand das letzte Mal hielt, sie das letzte Mal nach Hause begleitete. Bevor sie hinter dem Zaun des Wohnheims verschwand, in dem sie untergekommen war, hatte sie ihm eine Kusshand zu gehaucht. Überrascht hatte er mit der gleichen Eleganz darauf geantwortet, voller Begeisterung, wie zwei Liebende, die den Gedanken nicht ertragen konnten, sich für den Tag zu trennen. Sein Blick verschwamm, als er sich der dramatischen Situation bewusst wurde: Die Frau, die er liebte, würde sich von ihm trennen. Er vermutete, dass er sie nie wiedersehen würde. Bemerkte sie seine Traurigkeit? Ihm war es lieber gewesen, sich das Gegenteil vorzustellen. Was war ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass er von dieser gedrückten Stimmung überwältigt worden war? Zwischen ihnen deutete offiziell noch nichts auf eine Trennung hin. Außer dass er sie in der Luft wahrnahm, wie den Geruch eines starken Giftes, gegen das er nicht ankämpfen konnte. Er schwieg und hoffte sich zu irren. So oder so schien ihm das Spiel aus zu sein. Mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten hatte er den Asphalt überquert, sich vom Gebäude entfernt, hatte angenommen, dass er dieses Viertel vergessen müsste. Er drehte sich um und ging in Richtung seines armseligen 1-Zimmer-Appartements davon. Dort erwartete ihn das Gefühl der Unvollständigkeit genährt von latenter Einsamkeit und neuen Tränen als einziger Gesellschaft. Durch sie hatte er sich an das Verhalten einer aufmerksamen und aufrichtigen Partnerin gewöhnt, die sich regelmäßig meldete, wobei sie darauf achtete, ihren Partner nicht durch eine tägliche Überwachung zu erdrücken. Er selbst ließ ihr ihre Freiheiten. Von einem Tag auf den anderen versuchte nun ein neuer Unterton den vorherigen zu ersetzen, was ihn in einen emotionalen Abgrund stürzte. Als er spürte, wie ihm seine Gefühle brutal aus dem Herzen gerissen wurden, hatte er einen intensiven Schmerz, einem Phantomschmerz gleich, empfunden. Fast zwei Wochen hatte sie sich rar gemacht, hatte er sie vermisst. Er hatte mehrfach versucht sie zu erreichen. Vergeblich. SMS, Anrufe oder sogar E-Mails, es kam keine Reaktion auf seine Versuche Kontakt mit ihr aufzunehmen. Keine Antwort, keine Nachricht; nur Missachtung. Er verstand es nicht, fragte sich, was passiert sein könnte, das die Flucht seiner Angebeteten ausgelöst haben mochte. Umso mehr, da sie geplant hatten am kommenden Wochenende gemeinsam nach Venedig zu fahren. Ihre Liebesgeschichte hatte traumhaft schön begonnen. In ihrer, seit einigen Wochen andauernde Romanze, schien sie nichts trennen zu wollen. Es gab nur ein schicksalhaftes Datum, das sie seit Beginn ihrer Beziehung kannten.

Sie waren sich in der Pariser Metro begegnet; überfüllte Gänge, Menschen in Eile. Inmitten des Ameisenhaufens stand eine verloren wirkende junge Frau und sah in alle Richtungen. Der Bahnhof litt unter umfangreichen Modernisierungsarbeiten. Die Hinweisschilder fehlten. Nur die Pendler kannten ihren Weg, wie perfekt programmierte Roboter im Zusammenspiel miteinander. Er war genauso verärgert wie die junge Frau. Er fand sich nicht zurecht. Dabei war er die langen Tunnel gewöhnt. Da er weder Auto noch Zweirad besaß und ihm Busse zu vollgestopft und zu kompliziert waren, um sich zurecht zu finden, hatte er sich angewöhnt, diesen Maulwurfsbau für die weiter von seinem Wohnort entfernten Ziele zu benutzen. Wenn das Wetter schön war und er sich an einen Ort begeben musste, der ihm nah genug erschien, zögerte er wegen der nachweislich horrenden Fahrscheinpreise nicht, die Strecke zu Fuß zu gehen. Blieben noch die Leihfahrräder von Velib‘, die auf bewundernswerte Weise in ganz Paris verteilt waren; aber auch hier hatte ihn das Abonnementangebot nicht überzeugen können. Er hatte schon versucht, ein Gefährt aus seiner Verankerung herauszuziehen, aber es bestand darauf, daran kleben zu bleiben. Allerdings fand er das Konzept interessant, nur dass die Logik des kapitalistischen Gewinns jede ökologische Initiative zerstörte. Eine verzweifelte und zwiespältige Erkenntnis traf ihn, als er feststellte, dass man in unserem Wirtschaftssystem nicht anders konnte, als in stillschweigender Übereinkunft unserer Machtlosigkeit, eine politische Entscheidung, die den Bürgern zu Gute kommen sollte und die von privaten, geldgierigen Unternehmen umgesetzt wurde, fast schon auf Knien zu akzeptieren.

Die junge Frau, die sah, wie er sich um sich selbst drehte, hatte es gewagt, sich ihm zu nähern und ihn gefragt, ob er auch die Linie 14 suchte. Dem war so. Er musste mit dieser Linie bis zum Bahnhof Saint-Lazare fahren, um dann von dort aus in einen Vorortzug umzusteigen. Er war mit Stéphanie, einer befreundeten Malerin verabredet. Sie hingegen war in die andere Richtung, nach Bercy, unterwegs. Rein optisch war sie ganz nach seinem Geschmack. Sie sprach kein perfektes Französisch. Ihr Akzent verriet ihre osteuropäischen Wurzeln. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie Svetlana hieß und aus Russland kam. Im Gegenzug hatte er ihr seinen Vornamen verraten. „Franck“ hatte er geantwortet, ohne dabei zu versuchen, sie mit weiteren Informationen über seine Person zu beeindrucken oder ihr mit aufdringlichen Fragen auf die Nerven zu gehen.
Svetlana hatte es immer vorgezogen, von ihren Freunden Sveta genannt zu werden. Sie war seit drei Wochen in Paris, um hier zu arbeiten. Sie nutze ihren Aufenthalt aber auch, um während ihrer Freizeit verschiedene europäische Länder zu bereisen. Ihre Arbeit bestand darin, in einem Geschäft in der Galerie Lafayette Handtaschen zu verkaufen. Die Rolle der Verkäuferin in einer Boutique interessierte sie wenig. Sie langweilte sich sogar sehr oft. Das war die einzige Möglichkeit, die sie gefunden hatte, um ihren Traum, nach Frankreich zu reisen, zu verwirklichen. Auf diese Weise hatte sie ein Visum für drei Monate bekommen können. An diesem Tag war sie auf dem Weg zu einer ihrer Kolleginnen, die aus der Ukraine stammte und die aus dem gleichen Grund nach Frankreich gekommen war wie sie. Sie hatten einen Spaziergang durch die Stadt geplant, bei dem sie auch shoppen gehen wollten.
Svetlana hatte Franck vorgeschlagen, auszusuchen welche Richtung sie einschlagen sollten. Sie hatte ihm anvertraut, dass ihr Sternzeichen sie tagtäglich beeinflusste und nicht immer zum Besten. Waage: das Symbol für alle Arten der Instabilität. Sie konnte sich oft nur schwer entscheiden, vor allem in wichtigen Augenblicken. Ein Ja am Morgen konnte sich am Abend in ein Nein verwandeln. Sie hatte ihm Einzelheiten ihrer Persönlichkeit enthüllt, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, ob es eine gute Idee war, sich einem Fremden gegenüber so zu verhalten. Sie hatte sich spontan, natürlich benommen, hatte sich in Gegenwart dieses Mannes wohl gefühlt. Sie hatte auf Anhieb eine positive Aura und ein beruhigendes Gefühl gespürt, als sie diesen Mann bemerkte, der genauso verloren war wie sie.
Ohne es zu wollen, hatte Franck die Art Mann verkörpert, der die Initiative ergreift. Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, hatte sich als der richtige für Svetlana herausgestellt. Sie hatte sich bei ihm bedankt und wollte sich schon auf den Weg machen. Während er seine Schüchternheit an das hinterste Ende seines Temperaments verdrängte, hatte Franck sie gefragt, ob sie Lust hätte, an einem der nächsten Tage in seiner Begleitung Paris zu erkunden, so könnte sie in den Genuss eines privaten Reiseführers kommen. Überrascht und zögernd hatte sie ihn gemustert und sich nach den Absichten dieses Mannes gefragt. War er ein seriöser Mensch oder ein Abenteurer? Vielleicht ein Schnorrer?

Nachdem einigen Sekunden der Überraschung vergangen waren, hatte Svetlana ihm ein strahlendes Lächeln geschenkt, anschließend zustimmend mit dem Kopf genickt und ihm offenherzig mit der Allerweltsfrage „Warum nicht…?“ geantwortet. Danach hatten sie ihre Telefon-Nummern ausgetauscht. Ein paar Höflichkeitsfloskeln waren gefolgt. Sie hatten sich einen schönen Tag gewünscht und sich mit einem linkischen Händedruck verabschiedet.
Franck war in die andere Richtung davongegangen, mit einem Lächeln auf den Lippen, wie ein Idiot, der vom Zufall gesegnet worden war, so dass ihm viele neugierige Blicke folgten. Auf der Fahrt hatte Franck nicht anders gekonnt, als an dieses fröhliche Gesicht zu denken, das ihm gerade begegnet war. Ein sanfter Gesichtsausdruck, strahlend, voller Anmut und großer Zärtlichkeit. Er hatte sich gefragt, ob er dieses Mädchen wiedersehen würde. Wie groß waren die Chancen, dass sie einwilligen würde, mit ihm spazieren zu gehen. Sehr gering, seiner Meinung nach. Um eine Person loszuwerden, die lästig werden würde, war es ein Leichtes, ihren Wünschen zu entsprechen und ihr eine Lüge als erlösendes Geschenk aufzutischen, wie etwa eine falsche Telefonnummer, die den guten Willen bezeugen würde. Hätte er sofort versuchen sollen, sie anzurufen?
Franck dachte zu viel nach. Er hatte bereits ein Auge auf diese junge Frau geworfen, wenn auch unbewusst. Er war seit mehreren Monaten Single, schaffte es aber nicht, seine Ex zu vergessen. Dieser blonde Kopf mit den strahlend blauen Augen hatte es jedoch gerade mit einem Wimperschlag, einem Lächeln fertiggebracht, ihn zu verwirren. War das der Wunsch, etwas Neues zu beginnen? Die ersten Anzeichen einer unerwarteten Verliebtheit? Die ganze Fahrt über hatte er sich dieses hübsche Puppengesicht wieder ins Gedächtnis gerufen, das aus dem Nichts aufgetaucht war, wie ein Glückstreffer, ein Geschenk des Himmels, eine Pokerpartie, deren ersten Karten sich als vielversprechend herausstellten. Und trotzdem… was mochte das Schicksal für ihn bereit halten? Die Zukunft hielt mannigfaltige Überraschungen bereit, ohne vorhersehbar zu sein. Wünsche wurden geweckt. Ein harmloser Anruf würde vielleicht etwas in seinem Alltag verändern. Ein Umbruch, der sein Leben mit neuem Schwung versehen, und die Person ausradieren würde, die er zuvor geliebt hatte. Konnten die Veränderung und das Vergessen einer Person, die man im Herzen getragen hatte und an die man immer noch dachte, so einfach sein? Wahrscheinlich… Trotzdem würde immer ein wie auch immer gearteter Rest der Anziehungskraft zurückbleiben, der sich seinerseits als unauslöschlich erweisen würde.
Als er bei seiner Freundin Stéphanie angekommen war, hatte Franck sich weder zurückhalten können noch wollen und ihr von dieser Zufallsbegegnung erzählt. Dieser Moment, der nur einige Minuten gedauert hatte, überflutete erneut seinen Verstand. Er lief Gefahr, Hoffnungen in eine so kurze Unterhaltung zu setzten, die keinerlei Folgen garantierte. Diese junge Frau hatte ihn vom dem Augenblick an, als sie Kontakt aufgenommen hatte, geblendet. Stéphanie wusste über die vorangegangenen Enttäuschungen ihres Freundes Bescheid. Sie schien sich für ihn zu freuen und wünschte ihm, dass daraus eine schöne Geschichte entstehen würde, sollte er sie je wiedersehen. Sie riet ihm auch, dem Ganzen keine allzu große Bedeutung beizumessen, solange sich nichts konkretes ergab. Franck hatte Stéphanie viele Jahren zuvor bei einem Internet-Chat kennengelernt. Obwohl sie sich in der ersten Zeit zueinander hingezogen fühlten, hatten sie es vorgezogen, die Distanz zu wahren. Eine Freundschaft entstand.
Klein und braunhaarig, war Stéphanie optisch das Gegenteil von Svetlana. Sie besaß einen nicht zu leugnenden Charme, der einen Mann ohne große Probleme in seinen Bann ziehen konnte, vor allem, wenn sich herausstellte, dass dieser Junggeselle war, so wie Franck zu dem Zeitpunkt, als sie sich kennengelernt hatten. Einerseits hatte Franck die Intelligenz dieser Frau angesprochen. Andererseits rauchte sie zu viel. Der unangenehme Geruch nach kaltem und abgestandenem Tabakrauch hatte sich auf lange Sicht als Hindernis erwiesen. Im Laufe der ersten Wochen hatte sich das Begehren in eine Art Kameradschaft verwandelt. Sie schätzten es, Zeit miteinander zu verbringen, über ihre gemeinsamen Vorlieben zu sprechen, die beim Kino, der Kunst und der Literatur lagen. An Abenden wie dem, den sie jetzt zusammen verbringen würden, hatte es mehrere Gelegenheiten gegeben sie zu vögeln, nur dass Franck sich zurückgehalten hatte und auf seinem Platz geblieben war. Auch wenn Stéphanie es nie laut ausgesprochen hatte, waren ihr zärtliches Benehmen ihm gegenüber und die aufreizende Art sich zu kleiden, nichts anderes als eine Einladung zum Sex.

Damit eine Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau entstehen konnte, durfte man niemals, wirklich niemals, mit der betreffenden Person schlafen. Manchmal, oder sogar ziemlich oft, gibt es Verwirrungen, werden Dinge nicht ausgesprochen, sind da Besitzansprüche, obwohl man weiß, dass keiner von beiden eine romantische Beziehung mit dem anderen wünscht. Wenn man die unsichtbare Grenze überschreiten würden, könnte man im besten Falle erwarten, dass sich daraus eine Beziehung des Typs ‚sex friends‘ entwickelte. Bestenfalls würde sich das über einige Monate hinziehen, gerade mal so lange, bis einer von beiden von jemand anderem bezaubert wird, der ihm besser gefällt, und diese Begegnung sich zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Im schlimmsten Fall, ein kurzes Abenteuer für eine Nacht nach einem feucht-fröhlichen Abend. Zwei Möglichkeiten, die zum gleichen Ergebnis führen: ein Misserfolg, der jegliche Anstrengung, eine Freundschaft aufzubauen, zunichtemachen würde. Sobald der Akt einmal vollzogen wäre, würde kaum noch Hoffnung bestehen, dass sich eine derartige Sympathie entwickeln könnte. Beide würden dabei verlieren. Meistens wird die Entscheidung, ob man zusammen sein möchte in den ersten Tagen oder ersten zwei Wochen nach der Begegnung getroffen. Das ist eine geheimnisvolle Zeitspanne, denn sie ist erfüllt von einer besonderen Atmosphäre, voller Erwartungen, Illusionen, Wünschen und Fragen. Manchmal sagt man sich: „Das ist sie… Das ist die Richtige!“ Dann zeigt sich das Trugbild und der besondere Mensch verschwindet für immer. Wenn von Anfang an nichts gewesen wäre, hätte die freundschaftliche Verbundenheit, die so schön und so besonders ist, erblühen können.
In seltenen Fälle geschieht das Gegenteil. Nach einer Zeit der guten Freundschaft, wenn beide gleichzeitig und seit einiger Zeit Single sind, haben die beiden Freunde das Bedürfnis nach einem Partner. Sie schätzen sich so sehr, dass sie schließlich eine zärtliche Nacht miteinander verbringen. Ein Fehler, der vielleicht Jahre der Freundschaft zerstören wird, nur wegen eines einfachen Koitus…
Es ist seltsam, wenn sich eine Frau von einem Mann trennt, bringt sie es manchmal fertig, ihm zu sagen, dass sie ihn als Freund behalten möchte… Wie soll ein Mann ein gewöhnlicher Freund von einer Frau werden, die er aufrichtig geliebt hat und die er immer noch begehrt? Eine Freundschaft zwischen Mann und Frau erscheint unwahrscheinlich, wenn sie vorher echte Gefühle füreinander gehegt haben. Das ist sogar eine hässliche, scheußliche Idee! Das ist eine Herabstufung. Als Freund, der ihr einmal so nahestand, wird nun von ihm erwartet, dass er eine gewisse Distanz wahrt und unvoreingenommen beobachtet. Schlimmer noch, es besteht die Möglichkeit, dass es zu einer Begegnung mit dem neuen Verehrer kommt, und dass er das Verführungsspiel dieses neuen Partners durchschaut, der sich schon vorstellt, dass er die einstmals Geliebte Tag und Nacht von ihm fernhalten kann. Wie abscheulich! Diese Vorstellung verursacht Brechreiz, wenn man nur daran denkt. Ganz offensichtlich erscheint eine Freundschaft unvorstellbar und unwahrscheinlich, nachdem man eine aufrichtige Liebesbeziehung miteinander erlebt hatte. Vielleicht Jahre später… Obwohl, man müsste in der Lage sein, all das zu verzeihen, was zur Trennung geführt hatte.

Stéphanie zeigte Franck die Leinwände mit ihren neuesten Werken. Ihr Stil neigte zum Surrealismus und konnte nur schwer beschrieben werden, so sehr verschmolzen die menschlichen Gestalten, die oft deformiert waren, mit einer äußerst chaotischen Atmosphäre. Trotzdem war es ihr noch nie geglückt, ihre Werke auszustellen. Franck zweifelte nicht daran, dass die ruhmreichen Zeiten seiner Freundin noch kommen würden. Ihr Talent sprang ins Auge. Sie verließ sich nicht nur auf ihre Kunst, um Geld zu verdienen, sie arbeitete auch in einem Büro für eine Firma, die Griffe für Kühlhäuser verkaufte. Sie kümmerte sich am Telefon um die kaufmännischen Beziehungen zu den Kundenunternehmen. Dabei langweilte sie sich zu Tode. Sie nutzte jedoch die Gelegenheit, um einige der potenziellen Käufer anzubaggern, die dann für eine Nacht ihre Liebhaber wurden. Diese Arbeit war ihr Mittel, die jährlich steigenden Lebenshaltungskosten zu stemmen, die uns von der Funktionsweise unsere Gesellschaft, die dabei ist zu zerfallen, aufgezwungen werden, und die die immer neuen Führungspersönlichkeiten unbedingt aufrecht erhalten wollen, da sie Angst haben, ihre Vorteile einzubüßen, denn sie sorgen sich nur um sich selbst, während die Bevölkerung – die Bürger – von dem Joch immer neuer unverdaulicher Gesetze erdrückt und missachtet werden.
Nach einem guten Teller Nudeln und nachdem sie den Film Kabinett außer Kontrolle gesehen hatten, in dem unsere schändlichen Regierungen verhöhnt werden, kehrte Franck nach Hause zurück.
Im Zug hatte er wieder an Svetlana gedacht. Er hatte gezögert, sie anzurufen und sei es nur, um seine Neugier zu befriedigen, ob die Nummer richtig oder falsch war. Er hatte sogar schon angefangen eine SMS zu schreiben, die einfacher zu verfassen war, als einen Anruf zu tätigen, ohne im Voraus zu wissen, worüber man wohl sprechen könnte. Nach reiflicher Überlegung hatte er davon abgesehen, sie abzuschicken. Er hatte gefürchtet, dass diese Nachricht, in der er sich nach ihr erkundigte, zu voreilig wäre, und dass die junge Frau nach ihrer Lektüre nur wünschen würde, Abstand von diesem Mann zu gewinnen, der noch ein Unbekannter war und der neugierig danach fragte, wie ihr Tag verlaufen war.
Am nächsten Morgen wurde Franck um 7 Uhr von seinem vibrierenden Telefon aus dem Schlaf gerissen. Er hasste es, wenn seine Nacht auf diese Weise verkürzt wurde. Die Lösung hätte darin bestanden, das Gerät auszuschalten, aber es diente ihm auch als Wecker. Normalerweise stand er so gegen 9 Uhr auf. Obwohl kein besonderes Programm auf ihn wartete, nutzte er die Zeit, um Filme zu gucken, in Büchern zu schmökern, Bier mit seinen Freunden zu trinken, während sie Neuigkeiten aus ihrem jeweiligen Leben austauschten. Manchmal blieb er zu Hause, um im Internet zu recherchieren und um über eine mögliche Fotoreportage, die er verwirklichen könnte, nachzudenken. Ab und an las er die Stellenanzeigen. Diese Recherche stürzte ihn in einen Zustand, der einer Depression nahekam. Die immer gleichen Anzeigen wiederholten sich ohne Unterlass. Aber wenn er an die Unternehmen schrieb, hielten diese es nicht einmal für nötig, ihm zu antworten. In seinem Berufsfeld gab es nichts, außer im Winter Porträts vom Weihnachtsmann zu machen oder den Fotografen in Schulen oder bei Hochzeiten zu geben. Franck hatte diese Jobs schon gemacht und fand sie so langweilig und eintönig… Sie besaßen keinerlei künstlerischen Wert. Es gab nichts, das ihm auf lange Sicht gefallen würde.
Wenn er unterwegs war, um Reportagen zu machen, inspirierten ihn Dreck und Elend. In Paris gab es davon viel und das, was es gab war furchtbar! Postkartenmotive zu fotografieren interessierte ihn nicht. Jedem das eigene kreative Universum.
Franck hatte sich die Augen gerieben. Auf dem Handydisplay wurde eine SMS angezeigt, die von Svetlana kam. Diese Überraschung hatte ihn aus dem Bett springen lassen. In der Nachricht erwähnte Svetlana, dass sie am kommenden Sonntag nichts vorhätte. Sie würde sich freuen, wenn ihr ein Reiseführer ein schönes Pariser Viertel zeigen könnte. Sie hatte ihre Nachricht mit einem unschuldigen, lächelnden Smiley beendet. Franck war überrascht, dass er diese SMS bekommen hatte und große Freude überwältigte ihn. Er musste sich nicht mehr den Kopf zermartern, ob er sie kontaktieren sollte oder nicht, sie hatte das soeben als erste getan. Dieser Schritt bedeutete ihm viel. Diese Frau schien aufrichtig zu sein und sie wollte ihn wiedersehen, mit ihm spazieren gehen und ihn kennenlernen. Vielleicht wollte sie auch etwas mehr? Hier bildete sich Franck sicherlich etwas zu viel ein. Diese Begeisterung würde ihn die drei Tage lang, die ihn von dem Rendez-vous trennten, bei guter Laune halten. Die seelischen Qualen durch die Erinnerungen an seine verflossene Liebe, begannen bereits zu verblassen. Franck fühlte sich vollauf bereit für eine neue Beziehung. Er hatte sofort geantwortet. Er hatte die Gelegenheit genutzt und ihr seine E-Mail-Adresse zukommen lassen. Svetlana hatte darauf reagiert, indem sie ihm ihre gab, wieder gefolgt von dem gleichen Smiley, wie in der vorangegangenen Nachricht. Dieses einfache Symbol ließ bei diesem so kurzen Schriftwechsel so viel Liebenswürdigkeit erkennen, dass er überzeugt war, einem wunderbaren Mädchen begegnet zu sein.
An diesem Abend hatte Franck vor dem Computerbildschirm ausgeharrt. Er hatte Svetlanas Kontaktdaten beim Instant-Messaging-Dienst Skype eingetragen. Plötzlich hatte sich diese Unbekannte, auf die er sehnlichst wartete, eingeloggt. Sie hatte ihm von ihrer Tätigkeit erzählt und ihm von all ihren Sorgen berichtet, als wäre Franck ein enger Vertrauter geworden, den sie schon seit vielen Jahren kannte.
Bei ihrer Arbeit, erklärt sie ihm, war die Stimmung nicht die fröhlichste. Die Geschäftsführerin griff die Verkäuferinnen an und bezeichnete sie als unfähig. Es gab Diebstähle und niemand bemerkte auch nur das geringst, nicht einmal der Wachmann. Hysterisch und paranoid, beschuldigte sie daher der Reihe nach jede ihrer Mitarbeiterinnen und bildete sich sogar eine interne Verschwörung gegen ihre Person ein.
Die meisten ihrer Kolleginnen kamen aus dem Ausland. Die Leute träumten davon, Frankreich zu entdecken und kamen zur Sommersaison ins Land, in der mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden. Außer Svetlana, die aus Russland kam, war da noch eine Moldawierin, zwei Ukrainerinnen, eine Chinesin und eine Brasilianerin. Zwei Französinnen vervollständigten das Team. Ihre Chefin war ebenfalls Französin, mit koreanischen Wurzeln durch ihre Eltern. Die Frau, die im Augenblick die Boutique leitete, war Französin. Dieses Geschäft war ein wahrer Melting-pot. Einige der Verkäuferinnen sprachen kein Wort Französisch. Sie glichen diesen Mangel durch ihre Englischkenntnisse aus, die sie brauchten, um mit den Kunden zu sprechen, bei denen es sich vorwiegend um Touristen handelte, die Französisch nicht verstanden. Svetlana konnte die Sprachen üben, die sie gelernt hatte. Sie fand, dass das der einzige Vorteil bei ihrer Arbeit war.
Sie hatten beschlossen, im Montmartre-Viertel spazieren zu gehen. Svetlana hatte Paris noch nicht richtig besichtigen können. Jetzt, wo sie mehr Zeit zur Verfügung hatte, wollte sie das nachholen. Sie hatte gerade einmal den Eiffelturm besichtigt… und das nur von außen. Als Svetlana den Metallkoloss erblickt hatte, hatte sie sich gesagt: „Was? Das soll der berühmte Eiffelturm sein? Das ist doch nichts außergewöhnliches!“
Ihre ukrainische Freundin, die sie begleitet hatte, hatte überhaupt keine Reaktion gezeigt. Dieses Monument, das in der ganzen Welt bekannt war als Symbol für das Frankreich der „Freiheit“, hatte bei den beiden Frauen nur eine armselige Wirkung gehabt, weit entfernt von der ersten Begeisterung, die sie vielleicht vor ihrer Ankunft beim Anblick diverser Bilder verspürt haben könnten. Der ganze Zauber eines Fotos liegt in der richtigen Einstellung des Verschlusses, der die Belichtungsdauer bestimmt, und der Öffnung der Blende, die das Licht hindurch lässt. Die Wahl der Brennweite sollte einen guten Aufnahmewinkel und einen klugen Bildausschnitt haben, was jedem Trugbild Leben einhauchen kann.
Svetlanas Zeitmangel, der ihre Ausflüge seit ihrer Ankunft eingeschränkt hatte, war durch eine Jahresabschlussarbeit entstanden, die sie noch nicht beendet hatte und die sie schnellstmöglich bei ihrem Professor abgeben musste. Um ihre Leidenschaften – Kunst und Französisch – zu verknüpfen, hatte Svetlana einige Lieder aus dem Film Die Regenschirme von Cherbourg ins Russische übersetzen und untertiteln wollen. Das war ihr französischer Lieblingsfilm. Trotz einer kleinen Verspätung in Hinblick auf den vereinbarten Abgabetermin, hatte Svetlana die Arbeit, nachdem diese einmal fertiggestellt worden war, via Internet eingereicht. Anschließend hatte sie die Bestnote dafür bekommen. Was für eine Freude! Sie konnte sich jetzt sicher sein, dass sie zum fünften und letzten Jahr zugelassen wurde, und noch dazu mit einer Auszeichnung vom Lehrer. Nach so viel harter Arbeit hatte sie sich das Recht auf eine Auszeit als Belohnung verdient und darauf, sich so viel zu vergnügen, wie sie wollte.

Während der 3 Tage Wartezeit, hatte Franck eine E-Mail von Elias, einem seiner Freunde erhalten, mit dem er den gleichen Studiengang belegt hatte, und der danach aus unerfindlichen Gründen zum Kino gewechselt hatte. Einige Jahre später folgte Franck ihm nach. Elias rechtfertigte seine Wahl mit einem Zitat aus dem Film Der kleine Soldat von Jean-Luc Godard: „Fotografie ist Wahrheit und der Film ist 24-mal Wahrheit in der Sekunde!“ 24-mal die Wahrheit in der Sekunde… Dieser Gedanke setzt so viel Weitsicht voraus, dass es keine Worte gibt, die das Gefühl beschreiben können, das man dabei empfindet.
Elias war ein ziemlich begabter Filmemacher in seinem Genre geworden, einem Film-Genre, das zwischen Genie und Wahnsinn schwankte und das dieser snobistischen Branche einen heftigen Seitenhieb verpasste. Eine Branche in der sich eine „große Familie“ von hinterhältigen Personen versteckt, in der sich viele Menschen hassen, aufeinander eifersüchtig sind, oder einem ohne ersichtlichen Grund übel mitspielen.
Elias hielt sich für zwei Monate im Libanon auf. Er arbeitete an seinem zweiten Spielfilm. So wie sein erstes Projekt, würde diese Produktion dank einiger großzügiger Mäzene finanziert werden, die einen engen Freund Elias kannten, und die nichts im Gegenzug dafür verlangten. Die Herstellungskosten für das Werk würden sich auf nicht einmal 5.000 Euro belaufen, wobei er sich mit einigen engen und begeisterten Freunden umgab, die an seine Arbeit glaubten. Elias teilte Franck in seiner E-Mail mit, dass das Drehbuch bald fertiggestellt sein würde. Seinen libanesischen Freunden und seiner Familie ginge es gut. Er saugte die Freiheit in sich auf, weit entfernt von der beklemmenden Atmosphäre in Paris, weit weg von seinem erbärmlichen 15-Quadratmeter-Palast, einem Lebensraum, der die Grundfläche eines seiner Bäder im Libanon hatte, und in seinen eigenen Worten: „die Größe meines Scheißhauses!“
Paris… das künstliche Herz Frankreichs. Stadt der Opfer und des Leidens in der Hoffnung, es eines Tages „zu schaffen“.
Franck hatte ihm auf seine Nachricht geantwortet. Er hatte ihn an seinen banalen Erlebnissen der letzten Tage teilhaben lassen, und ihm haarklein berichtet, wie er dem Blick einer hübschen Russin begegnet war, die es ihm eventuell ermöglichen würde, die zu vergessen, die ihn in den letzten Woche so sehr hatte leiden lassen: seine letzte Freundin, die ebenfalls Ausländerin war. Er betrachtete sie nur noch als eine flüchtige Geliebte für die Zeit, wenn sie nach Paris kam, um sich zu entspannen und zu vergnügen, was regelmäßig ein- bis zweimal im Jahr passierte. Franck versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten, sollte sich etwas mit der jungen Frau ergeben und empfahl ihm, die Ferien in der Sonne zu genießen, bevor er wieder in dem grauen Paris in Klausur gehen würde.

2.
Als Treffpunkt hatte er mit Svetlana die Metro-Station Abbesses vereinbart. Franck wollte ihr den Montmartre und Sacré-Cœur zeigen. Die Wettervorhersage war nicht gerade einladend: riesige Nimbuswolken ließen Niederschläge erwarten. Vereinzelte Sonnenstrahlen durchbrachen mehr schlecht als recht die dicke Wolkendecke. Was für ein graues und deprimierendes Wetter für ein erstes Date!
Franck wartete seit gut 10 Minuten auf sie. Er war nicht zu früh. Svetlana kam zu spät. Er hatte schon versucht sie anzurufen und war direkt auf ihrer Mailbox gelandet.
Vor dem Ausgang der Metro-Station war wie aus dem Nichts ein Brautpaar aufgetaucht. Gefolgt von einem Filmteam hatten sie den winzigen Platz in Besitz genommen. Beim Anblick der Ausrüstung, hatte Franck einen Moment lang gedacht, dass es sich um eine Filmproduktion handelte. Da war ein Kameramann, der eine Steadycam umgeschnallt hatte. Die Halterung schien schwerer zu sein als die Kamera an sich, bei der es sich um eine kleine digitale Videokamera handelte. Eine andere Person richtete eine tragbare Beleuchtung aus. Ein Assistent leitete den Kameramann an, der nur seinem LCD-Bildschirm vertraute. Ein vierter Mann hinderte eine ganze Menschenansammlung daran, zu nah heranzukommen – sicherlich die beiden Familien und Freunde der Brautleute. Franck hatte sich etwas von ihnen entfernt, um nicht im Bild zu erscheinen. Das Liebespaar nahm abenteuerliche Posen ein, wobei es den Zugang zum Metro-Eingang blockierte. Dieses Spektakel war in Francks Augen schwer zu ertragen. Die Art von Überspanntheit, die durch zu viel Geld hervorgerufen wurde.
Nachdem man sie wieder durchließ, konnten die Leute die unterirdische Station schließlich verlassen. Franck konnte Svetlana in dieser Flut von Menschen immer noch nicht entdecken. Er verfolgte weiterhin die chaotischen Aktionen des Pärchens. Dann drehte er sich um, um ein paar Kindern zuzusehen, die bei einem Karussell Freudenschreie ausstießen. Direkt daneben führte ein Clown eine Jonglier-Nummer vor. Er wurde von Touristen umringt. Rechts davon gab ein Mann den Rhythmus vor, indem er die Kurbel einer Drehorgel drehte. Was für eine anachronistische Atmosphäre! Der Charme war zu spüren. Trotz einer trostlosen Wettervorhersage entfaltete sich vor aller Augen der Zauber des Montmartre.
Als Franck wieder zur Metro-Station sah, kam eine Frau auf ihn zugelaufen. Es war Svetlana, Franck hatte sie nicht sofort erkannt. Sie trug die Haare, die an heute etwas gelockt waren, offen.

Svetlana hatte einen Trick, um ihren Haarschopf zu frisieren. Sie duschte und flocht sich danach Zöpfe, die sie später einen nach dem anderen wieder aufmachte. Dieser Vorgang erforderte sehr viel Zeit, aber die Frisur hielt fast drei ganze Tage. Svetlana hatte sich am Vorabend ihre langen Haare extra gewaschen, damit Franck auch ja die Löckchen bemerken konnte. Ihre Haare waren am Ansatz aschblond und an den Spitzen heller. Auf den ersten Blick wirkten sie eher hellbraun. Franck schien diese Frisur, die gerade mal über die Schultern reichte und diese besondere, natürliche Farbe zu gefallen.

Ihr unerwartetes Verhalten hatte Sanftmut erahnen lassen und Franck hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. War er ein Opfer der „Liebe auf den ersten Blick“ geworden, wie man es für gewöhnlich bezeichnete? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall hatte ihn diese Erscheinung hypnotisiert, verführt und betört. Die echte Spontanität verbunden mit dem angeborenen und nicht zu leugnenden Charme, hatten ihn auf der Stelle überwältigt. Das eine ohne das andere hätte eine andere Wirkung gehabt.
Er hatte bereits Frauen von sehr großer Schönheit kennengelernt, die durch ihr hochmütiges und unfreundliches Verhalten, das sogar ein etwas zu großes materielles Interesse durchblicken ließ, alle ihre Reize zunichtemachte. Svetlanas Auftreten entpuppte sich als fröhlich, warmherzig und um eine Anmut bemüht, die sie von der Masse abhob.
Sie hatten sich mit einem Kuss auf jeder Wange begrüßt, beide gleichermaßen verlegen wie erfreut sich zu sehen. Sie hatte sich für ihre Verspätung entschuldigt. Franck war ihr deswegen nicht böse gewesen. Er hatte ihr bereits verziehen. Allein schon ihre Ausstrahlung hätte jedem depressiven Mann ein Lächeln auf das Gesicht zaubern können. Svetlana erschien ihm wie ein schöner Stern, der dem Polarlicht gleich den Himmel und die Erde in eine besondere, magische, einzigartige und grandiose Atmosphäre tauchte. Sie war wie eine Hymne auf das Leben.
Franck hatte sich gefragt, auf welchem Weg sie wohl am besten bis zum Sacré-Cœur laufen sollten. Sie hatten sich für die erstbeste Straße vor ihnen entschieden, wohlwissend, dass sie sich früher oder später eh an die ansteigende Straßen heranwagen mussten. Franck war schon zu zahlreichen Gelegenheiten hier gewesen, ohne jedoch jemals die gleiche Strecke zweimal gegangen zu sein. Es gab eine Vielzahl möglicher Wege. Er mochte dieses Viertel sehr. Er fand es wunderbar geeignet für einen romantischen Spaziergang, vor allem wenn die Sonnen den Tag mit ihrer Anwesenheit beehrte. Das wenig einladende Wetter, hatte sie nicht daran gehindert, sich zu treffen, weil der Wunsch sich kennenzulernen stärker war. Sie hatten ein bisschen über dieses und jenes gesprochen, so wie es oft der Fall war, wenn sich zwei Menschen verabredeten, um sich bei einem ersten Treffen näherzukommen. Jeder fragte den anderen aus, um ihn besser einschätzen zu können, um zu sehen, ob er richtig reagierte, ob er die Unterhaltung auf neue Themen lenkte. Svetlana hatte ihm eine Menge Banalitäten erzählt. Unter anderem gelang es ihr nicht, die Mailbox ihres Handys abzuhören. Die Anleitung, die bei der SIM-Karte dabei gewesen war, enthielt zu wenig nützliche Informationen. Da sie den gleichen Anbieter hatten, hatte Svetlana ihm das Telefon überlassen, damit er ihr erklärte, was sie machen musste. Aber das Menü war auf Russisch! Franck hatte es nicht geschafft, es zu bedienen. Es handelte sich um ein altes farbiges Nokia Handy, das schon viel mitgemacht hatte. Sobald der Sommer um wäre und sie etwas Geld zur Seite gelegt hätte, wollte sie sich ein Smartphone kaufen. Dann würde sie wieder mitmachen beim Run auf neue Technologien und vor allem wäre sie wieder ein Teil der Konsumgesellschaft… Wer außer einem Steinzeitmenschen konnte sich dem entziehen? Dieser Evolutionsprozess gehörte zum Alltag. Niemand war gezwungen, die neueste Version eines Gerätes zu erwerben, nur wegen einer einfachen Designänderung und einer läppische Funktion, die als revolutionär dargestellt wurde; revolutionär vor allem für unser Portemonnaie. Franck hatte sein Samsung herausgeholt, ebenfalls ein sehr altes Model. Nachdem er das Menü durchsucht hatte, hatte er ihr die Zahlenkombination genannt, die man benötigte, um Zugriff auf die Mailbox zu bekommen.
Während sie ihre Sprachnachrichten abhörte, war Svetlana in Gelächter ausgebrochen. Nur drei Personen hatten ihre französische Nummer, denn sie kannte nur sehr wenige Leute in Paris und ihre Freunde kontaktierten sie über Internet. Die erste, die die Nummer bekommen hatte, war ihre ukrainische Kollegin, bei der zweiten handelte es sich um eine russische Freundin, die nach Frankreich gekommen war, um an der Westküste direkt am Meer in der Gastronomie zu arbeiten. Svetlana fände es schrecklich, so einen Job zu machen. Sie zog ihren vor, selbst wenn es ihrer Meinung nach noch nicht das war, was zu ihr passte. Der, der ihr zwei Nachrichten hinterlassen hatte, war niemand anderes als Franck… der sich übrigens fragte, warum sie sich so sehr amüsierte. Er hatte ihr mitgeteilt, dass er sich am Treffpunkt befand und dass er hoffte, es ginge ihr gut. Franck betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick, Svetlanas sonniges und spontanes Naturell gefielen ihm sehr.
Sie waren in so manche Gasse eingebogen, bevor sie erschöpft von den unzähligen Anstiegen, die sie hatten bewältigen müssen, an der Basilika angekommen waren. Der Platz war überfüllt. Während des ganzen Wochenendes fand eine Veranstaltung statt, bei der Kunststücke auf dem Skateboard vorgeführt wurden. Eine Menge Bereitschaftspolizisten sorgte durch ihre Anwesenheit für Sicherheit. Zwischen zwei Reihen von Absperrungen hindurch hatten sie den einzigen möglichen schmalen Weg genommen, der während der Veranstaltung den Zugang zu den Stufen des Bauwerks ermöglichte. Um bis zur Eingangshalle zu gelangen, hatten sie um die zögernden Touristen Slalom laufen müssen.
Im Inneren drängte sich die Menschenmenge. Sie waren gezwungen im Schritttempo zu gehen. Dieses langsame Vorankommen half ihnen dabei, sich von dem anstrengenden Hindernislauf zu erholen, den sie gerade absolviert hatten.
Obwohl sie nicht gläubig war, wenn es darum ging an die Göttlichkeit Jesus Christus zu glauben – einem Mann, der zum Sohn Gottes erhoben worden war, damit die damalige Obrigkeit den Pöbel besser hatte kontrollieren können – lehnte sie jedoch die Botschaft der Hoffnung, die voller edler Worte und Ideale für die Menschheit als Ganzen und jeden einzelnen Menschen war, nicht ab. Svetlana hinterfragte sich und suchte sich selbst. Sie fragte sich nach dem Wert des Lebens, nach dem Menschsein an sich, nach dem, was für sie am wichtigsten war. Trotzdem gefiel ihr das grandiose Schauspiel, das ihr das Innere bot. Sie hatten gerade die heiligen Hallen eines der letzten Meisterwerke betreten, das vom katholischen Frankreich erbaut worden war und hatten ihren Spaziergang dem Rundgang folgend fortgesetzt. Danach waren sie ins Kellergewölbe gegangen, um die Krypta zu besichtigen. Anschließend waren sie bis zur obersten Spitze hinaufgeklettert.
Franck hatte beschlossen, sie einzuladen. Wie die meisten Denkmäler, blieb auch dieses Heiligtum nicht davon verschont: um nach oben zu gelangen, musste man seine EC-Karte zücken. Diese kapitalistische Geste ermöglichte es, die Gebäude instand zu halten, die Anzahl der Neugierigen zu begrenzen und, Gipfel des Göttlichen, ein paar Arbeitsplätze zu schaffen. Im Großen und Ganzen war es für einen guten Zweck. Franck hatte also für den guten Zweck zwei Eintrittskarten gekauft. Und vor allem hatte er sie für seine eigenen Zwecke gekauft…
Eine ausgeklügelte High-Tech-Anlage thronte vor der Kundschaft. Ohne überhaupt mit einem Kassierer sprechen zu müssen, konnte jeder die Zahlung durchführen, um die Eintrittskarten zu erhalten. Eine Modernität, die im Kontrast zu der Jahrhunderte alten Kathedrale stand.
Svetlana hielt einen Fotoapparat in der Hand. Sie benutzte ihn nicht, was Franck irritierte. Er hatte sie gefragt, ob sie wollte, dass er Fotos von ihr machte. Sie hatte bejaht und ihm die Kamera hingehalten. Sie war sehr fotogen, was den Fotos alle Ehre machte. Franck war sich jedoch bewusst, dass sie sie ihm nicht aushändigen würde. Jeder Fotograf, egal ob professionell oder privat, wollte einen Abzug seiner Arbeit aufbewahren, sei es auch nur in digitaler Form. Auch wenn die Aufnahmen nicht unter professionellen Bedingungen entstanden und mit einer Hobby-Ausrüstung gemacht wurden, war es die Natürlichkeit, die Svetlana auf den Bildern ausstrahlte, die ihm gefiel. Anschließend hatte er sein altes Handy hervorgeholt, dessen Auflösung zu wünschen übrigließ und hatte sein Modell noch einmal in verschiedenen Posen verewigt. Trotz der schlechteren Bildqualität dieses Gerätes, hatte er sich gesagt, dass er wenigstens ein paar Erinnerungen an diesen Tag haben würde, sollte es ihm nicht gelingen, diese junge Frau, die er immer wundervoller fand, wiederzusehen.
Als sie am Pinakel angekommen waren, hatte Franck wieder viel Zeit damit verbracht, mit Svetlana beim Fotografieren zu spielen. Er betrachtete sie, bewunderte sie und zog die Posen in die Länge. Er betätigte den Auslöser mehrere Male hintereinander. Die Touristen beobachteten sie und mussten darauf warten, dass sie vorbeigehen konnten. Franck bemerkte den Stau nicht einmal, den er verursachte. Er hatte sich in ein geschlossenes Universum zurückgezogen, war hypnotisiert und verzaubert von seinem Motiv. Er leitete sie an, lenkte ihre Gesten und ihr Verhalten. Svetlana fügte sich wie ein braves und gehorsames Modell. Die Anziehungskraft dieses Mädchens wirkte auf Franck wie ein Zauber, der die Kontrolle über seine Gefühle übernommen hatte. Sie hatte ihn ihrerseits durchschaut. Entzückt hatte sie sich von seiner ungewöhnlichen Fantasie mitreißen lassen. Wegen seines Benehmens fand sie ihn galant, freundlich, anrührend und vor allem begehrenswert. Sie war ihm erlegen.
„Soll er sich doch amüsieren und schauen wir mal, was dabei Gutes herauskommt“, hatte sie gedacht.
Als Franck zu seinem normalen Verhalten zurückgefunden hatte, bemerkte er auf den ersten Blick den Aufruhr, der entstanden war. Niemand hatte sich getraut, den Mann zu stören, der durch eine künstlerische Trance wie verwandelt war. Die Besucher hatten geduldig gewartet, als hätten sie einem Straßentheater zugeschaut. Franck hatte peinlich berührt gelächelt. Mit einer Handbewegung hatte er ihnen zu verstehen gegeben, dass sie nun weitergehen konnten.
Während Svetlana auf ihn zuging, hatte sie ihm gesagt, dass er sich wie ein ungezogener Junge benommen hätte, weil er all diese Leute aufgehalten hatte. Von jetzt an, müsste sie sich vor ihm in Acht nehmen.
Franck hatte ihr die Kamera zurückgegeben. Er hatte ihr geantwortet, dass sie ein sehr schönes Andenke an diesen Ort haben würde und dass es gefährlich werden konnte, ihm diese Art von Ausrüstung in die Hände zugeben, vor allem, wenn sich das Modell der Aufgabe so aufmerksam widmete. Franck hatte ihr bestätigt, dass sie sich auf den Bildern sehr gut machte. Das Posieren vor dem Objektiv machte ihr Spaß. Es könnte interessant für sie sein in Markenkleidung für Modezeitschriften zu posieren, wenn ein professionellerer Fotoapparat benutzt wurde, der qualitativ hochwertige Bilder machte.
An so etwas hatte Svetlana noch nie gedacht. Sie hatte ihm geantwortete, dass sie darüber nachdenken würde.
„In der Zwischenzeit räume ich die Kamera in meine Tasche“, hatte sie hinzugefügt.

Nachdem sie die Besichtigung beendet hatten, hatten sie zwei Touristen vor dem Gebäude angesprochen. Sie hatten auf Englisch gefragt, auf welche Weise sie das Eintrittsgeld zahlen konnten, um die Türme von Sacré-Cœur besichtigen zu können. Bar oder mit Karte?
Franck hatte nichts von ihrer Frage verstanden. Als guter Franzose, der etwas auf sich hielt, sprach er nur die offizielle Landessprache. Svetlana hatte ihn mit ihren großen blauen Augen gemustert und zärtlich gelächelt, als Franck geantwortet hatte: „Sorry, I don’t speak english“. Er war bereits weitergegangen, während Svetlana stehen geblieben war. Sie hatte Franck die Frage übersetzt, so dass er sie verstehen konnte. Er hatte sich umgedreht und war erstaunt, als er sah, dass sie immer noch neben den beiden Touristen stand. Er war wieder zu ihnen zurückgegangen, um zu berichten, was er vorher gesehen hatte: es gab einen Automaten, um mit EC-Karte zu zahlen und einen Schalter mit Kassierer, an dem Bargeld angenommen wurde. Svetlana hatte den Satz direkt im Anschluss übersetzt, wobei Franck sie gebannt betrachtet und festgestellt hatte, dass sie Englisch noch besser sprach als Französisch. Die Entdeckung, dass diese junge Frau mit gerade mal 20 Jahren drei Sprachen sprach, faszinierte ihn. Er hatte ihr deshalb mitgeteilt, dass es in ihrer Begleitung unmöglich wäre, sich im Ausland zu verirren, denn sie sprach Russisch, Englisch und Französisch. Sie hatte ihm scherzend geantwortet, sie wisse, dass sie die perfekte Frau sei. In dem Fall sollten sie eine gemeinsame Reise planen. Franck hatte nachgedacht, überrascht von dieser Reaktion. Dieser Vorschlag konnte auf keinen Fall ernst gemeint sein. Deshalb hatte er das nicht weiterverfolgt.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Franck noch nicht, dass Svetlana bereits Tickets gekauft hatte, um in den nächsten Tagen nach Belgien und in die Niederlande zu fahren. Ein Kurzurlaub, der aber für Svetlana, die Europa entdecken wollte, wichtig war. Sie dachte, dass sich keine weitere Möglichkeit bieten würde, um hierher zu kommen. Irgendwie hatte sie gehofft, Franck würde ihr vorschlagen, sie zu begleiten, mehr aus Angst davor, alleine auf Entdeckungsreise zu gehen, als wegen irgendwelcher Hintergedanken. Franck äußerte nichts in diese Richtung, als er im Laufe ihres Spaziergangs davon erfuhr. In seinem Innersten hätte er sie gerne begleitet, die Idee war ihm sogar durch den Kopf gegangen. Nur, dass er es sich finanziell nicht wirklich leisten konnte. Außerdem hatte ihn ein weiterer Zwang daran gehindert, diesmal ein beruflicher. Die Planung erwies sich als unvereinbar. Es war unnötig, länger darüber nachzudenken.

Franck hatte ihr vorgeschlagen, ihren Ausflug in Richtung des Buttes Chaumont Parks fortzusetzen, was sie gerne angenommen hatte.
Die Strecke hatte sie eine gute Stunde gekostete. Franck hatte die Zeit unterschätzt, die sie brauchen würden, um von der Basilika dorthin zu gelangen. Auf dem Weg hatten sie weiterhin Bruchstücke aus ihren Leben ausgetauscht. Franck hatte ihr von seinen Fotoarbeiten erzählt. Svetlana hatte sehr viel Interesse daran gezeigt. Für sie war die Fotografie eine wunderbare Form des künstlerischen Ausdrucks. Sie hatte auf die Tatsache hingewiesen, dass er keinen Fotoapparat mitgebracht hatte, um ihr Treffen zu verewigen. Sie zog ihn damit auf…
„Weil ich keinen habe … Ich leihe mir einen, wenn ich ihn für eine Reportage oder ein Foto-Shooting brauche“, hatte er ihr erklärt.
Das hatte sie überrascht. Sie hatte nicht erwartet, dass eine Profi-Ausrüstung, vor allem Objektive, so teuer wäre. Franck benutzte die Ausrüstung meistens nur während eines Zeitraums von ein oder zwei Tagen am Stück. Die Vermietung unter Privatpersonen erschien ihm als die beste Lösung. Eine Lösung, die ihn vor einem Verbraucherkredit bewahrte, den er nur mit Mühe hätte zurückzahlen können und der seine sowieso schon prekäre Lage noch verschlimmert hätte. In diesem Augenblick sah sich Franck nur als ein Tourist, der sein Handy benutzte. Svetlana hielt sich für eine sehr schlechte Fotografin. Sie schaute sich Fotos lieber an. Aber ihre Eltern wünschten sich, dass sie einige Bilder mitbrachte. Sie hatten nie die Gelegenheit gehabt, Europa zu bereisen.
Die Unterhaltung zwischen ihnen verlief ohne zu stocken. Franck fing an, sie zu mögen, und zwar nicht nur ein bisschen. Von Zeit zu Zeit korrigierte er einige ihrer Fehler im Französischen. Sie war begeistert, sobald er das tat. Allerdings hätte sie sich von einem Franzosen, der die Sprache beherrschte mehr erhofft. Svetlana hätte sich gewünscht, dass Franck sie bei jedem ihrer Fehler unterbrochen und dass er ihren Satzbau verbesserte hätte.

Der Aufenthalt in Frankreich hatte bei Svetlana einen großen Kulturschock verursacht. Das Leben und die Menschen erschienen ihr so anders als bei ihr zu Hause. Sie fühlte sich nicht wohl, wenn sie überall Gespräche auf Französisch hörte. Sie hatte den Eindruck, dass sie sich sehr schlecht ausdrückte. Ihre Kolleginnen, die von sich selber dachten, dass ihre Kenntnisse nicht ausreichten, um ein anständiges Gespräch auf Französisch zu führen, versuchten, sie zu beruhigen. Aber im Gegensatz zu Svetlana, waren sie zufrieden, wenn sie es schafften, sich verständlich zu machen.
Franck fand es normal, dass Svetlana mit Problemen konfrontiert wurde, schließlich war sie zum aller ersten Mal in Frankreich. Sie war nicht an den Klang der Sprache gewöhnt. Svetlana war übrigens erstaunt, dass es Franck gelang, sich alles zusammenzureimen, was sie sagte. Sie überrascht stellte sie fest, dass sie jedes einzelne Wort von Franck verstand. Im Laden hatte sie Probleme mit Dialekten, wenn sie das Kauderwelsch einiger Kunden entschlüsseln musste, die dabei doch gebürtige Franzosen waren. Deswegen gefiel ihr der flüssige Austausch zwischen ihnen. Die reibungslose Verständigung ermöglichte es ihnen, sich kennenzulernen.
Dass Franck Svetlana nicht immer verbesserte, lag daran, dass ihm die Fehler minimal erschienen. Vor allem, weil er es gewöhnt war ausländische Frauen zu treffen und in manchen Fällen abenteuerliche Satzkonstruktionen zu entschlüsseln. Da Franck nicht auf alle Fehler achtete, wurde er etwas von Svetlana überrumpelt, als sie selber feststellte, dass sie sich vertan hatte. Franck versuchte, sie zu beruhigen: es handelte sich nur um kleine Fehltritte bei der Konjugation oder bei der Satzstellung. Nichts schlimmes, seiner Meinung nach. Für sie kamen solche Fehler dem Weltuntergang gleich. Sie schämte sich dafür, hielt sich für eine Versagerin. Sie wollte die Sprache perfekt sprechen.

Um zum Park zu gelangen, hatten sie einen großen Teil des 19. Arrondissements durchquert, wo es einige der trostlosesten Ecken von Paris gab, die alle um die Goldmedaille für den Niedergang der Wohnviertel in Frankreich konkurrieren könnten. Und dieser Niedergang war ein gutes Geschäft, der Quadratmeterpreis war hier höher als in den sonnigen Gegenden im Süden. Svetlana hatte den Eindruck, bei sich zu Hause zu sein. Das lag an den Gebäuden, den Geschäften, am hässlichen und dreckigen Anblick, der sie an die Stadt erinnerten, aus der sie kam. Es waren in keinster Weise touristische Viertel, in denen die Besucher lange verweilten, um sie zu besichtigen. Hier durchquerten sie einen Bereich, der das Gegenteil von dem Paris war, das sich auf den Postkarten verkaufte. Und dennoch verbargen sich an diesen Orten die größten menschlichen Werte, weit entfernt von der Falschheit und Affektiertheit der Bourgeoisie.
Als sie im Park angekommen waren, waren sie zur Insel Belvédère gegangen, zum Sybillen Tempel. An diesem Tag hatte man dort eine Seilrutsche aufgebaut. Sie spannte sich über den See und erreichte 30 Meter tiefer wieder festen Boden. Ein Verein machte Jugendliche mit dem Nervenkitzel beim Klettern in einem Hochseilgarten vertraut. Nach der Rutschpartie lud man sie ein, die anderen Aktivitäten eines Erlebnisparks im Pariser Umland zu entdecken. Eine Art Marketingvorführung, in Zusammenarbeit mit der Pariser Stadtverwaltung bei der auch alles ausprobiert werden konnte. Franck und Svetlana hatten einigen Jugendlichen beim Sprung ins Leere zugeschaut. Auch wenn die Anlage auf den ersten Blick beeindruckend war, war die Geschwindigkeit letztendlich nicht so hoch. Die Landung war sanft, jemand nahm sie in Empfang. Sie hatten hier einige Fotos gemacht. Franck verewigte Svetlana erneut aus verschiedenen Blickwinkeln.
Als sie das Panorama betrachteten, hatten sie das ganze Ausmaß der Strecke ermessen können, die sie zurückgelegt hatten. Sacré-Cœur erschien weit entfernt und klein. Als er sich den Fotoapparat ausgeliehen hatte, hatten sich ihre Körper leicht berührt, absichtlich und sanft. Da man auf diesem Felsen nichts anderes machen konnte, als den Jugendlichen dabei zuzusehen, wie sie sich an ein Seil hängten, waren sie in Richtung Hängebrücke aufgebrochen. Auch hier stellte sich der Verein vor. Dieses Mal bot er Kindern eine Einführung in den Klettersport an. Es war eher ein Abseilen, das sie 8 Meter nach unten beförderte. Auf das Geländer gestützt hatten sie sich hier lange aufgehalten. Die Zeit war bei ihrer unerschöpflichen Unterhaltung wie im Flug vergangen.
Svetlana hatte ihm von ihrer Familie erzählt. Ihre Mutter kam aus der Ukraine und ihr Vater war gebürtiger Russe. Ihre Schwester fehlte ihr sehr. Sie vertrauten sich die kleinsten Kleinigkeiten an, wie zwei sehr gute Freundinnen. Svetlana lebte 200 Kilometer von ihrer Familie entfernt. Sie besuchte sie nur in den Schulferien. Die restliche Zeit wohnte sie in einem Studentenwohnheim in der Innenstadt von Irkutsk, das 10 Minuten von ihrer Schule entfernt war. Einer ihrer Kunstlehrer war ein junger Franzose von nicht mal 30 Jahren, den sie sehr attraktiv fand. Es hätte sie nicht gestört, wenn sich zwischen ihnen etwas in einem anderen Kontext abgespielt hätte. Franck nahm an, dass sie ihm diese Information anvertraute, um die Richtung anzudeuten, in der es weitergehen sollte. Es war an ihm das Verhalten eines Mannes an den Tag zu legen, der eine Frau begehrte. Auf jeden Fall hatten sie sich amüsiert. Ihre Hände streiften sich immer häufiger.
Franck hatte seine Hand sanft auf Svetlanas Hand gelegt, die neben seiner lag. Sie hatte sich nicht dagegen gewehrt, was Francks Überlegung bestätigte. Von diesem Moment an war ihm bewusst, dass sich ihr Treffen weiterentwickeln würde. Die junge Frau war genauso durcheinander wie er. Er durfte jetzt nicht nachlassen und musste im richtigen Moment seine Kühnheit unter Beweis stellen, um die nächste Grenze zu überschreiten.
Nachdem sie sehr lange an dieser Stelle verweilt hatten, hatten sie beschlossen, ihren Spaziergang fortzusetzen. Francks rechter Zeigefinger hatte Svetlana zurückgehalten, die bereits dabei war umzukehren. Im Umdrehen hatte er ihren linken Zeigefinger wie mit einem Haken erwischt. Sie konnten sich beide jederzeit davon lösen. Die Berührung fühlte sich sehr schön an. Sie wussten beide, dass sie nicht nach einem Abenteuer suchten, sondern nach einer Verbindung ihrer Herzen. Die Fingergliedern ineinander verschlungenen, hatte Franck ihr vorgeschlagen, die Brücke ganz zu überqueren, um an einen Wasserfall zu kommen. Svetlana hatte als einzige Antwort darauf die Augen weit aufgerissen. Danach war sie sofort nah an ihn heran gerutscht. Mit ruhiger Stimme hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie diesen Ort gerne sehen würde. Franck hatte mit seiner linken Hand nach Svetlanas linker Handgegriffen, um sie anschließend in seine rechte zu legen. 10 Finger schlangen sich ineinander. Sie hüllten sich in ein angenehmes Schweigen. Von dieser Berührung ausgehend breitete sich eine intensive Wärme aus, die Franck fröhlich stimmte. Die zarte Hand einer Frau zu spüren, die man sehnlichst begehrt, ist ein wahrer Moment der Befreiung. Diese Geste ermutigt den Mann jedoch noch mehr, sein Verführungsspiel fortzusetzen. Das ist der Augenblick, in dem man weiß, dass etwas wichtiges passiert ist und dass sich daraus etwas ernsthafteres entwickeln wird. Es ist, als würde man einen Pakt schließen oder einen Vertrag unterzeichnen. Vor dieser Übereinkunft waren sie nur zwei fremde Schatten. Von nun an verkörperten sie zwei miteinander verbundene Seelen, die beide auf den Beginn einer Liebe hofften.
Nachdem sie am Wasserfall angekommen waren, hatte Franck Svetlana vorgeschlagen noch einmal Fotos zu machen. Sie hatte mit einem Kopfnicken zugestimmt. Ihre Augen strahlten wie tausend Sterne auf einmal. Wie ein kleines Mädchen war sie vorausgelaufen, um sich vor das Objektiv zu stellen, war zurückgekommen, um ihre Tasche zu Francks Füssen abzustellen, um dann ihre Pose wieder einzunehmen. Als sie die Spielerei mit den Aufnahmen beendet hatten, gab Franck den Fotoapparat an seine Besitzerin zurück. Dafür hatte sie ihm erneut ihre Hand anvertraut. Sie hatten dieses unschuldige und harmlose Vergnügen an zwei weiteren Stellen im Park wiederholt, was dazu geführt hatte, dass eine ganze Reihe von Wünschen geweckt worden war.
Während sie in einen abgeschiedenen Teil des Parks vordrangen, der auf den kleinen Gürtel von Paris schaute und in dem sich einige Obstbäume versteckten, waren sie mehreren sich küssenden Pärchen begegnet. Sie hatten peinlich berührt von der Situation gelächelt. Sie beobachteten sich gegenseitig… hatten beide den Kopf gesenkt. In ihrem tiefsten Inneren warteten sie nur darauf, das gleiche zu tun. Die Durchquerung dieses Bereiches hätte sich als der geeignete Moment für diese Zärtlichkeit herausstellen können, nur dass Franck, blockiert durch seine unbestreitbare Schüchternheit, nicht den richtigen Augenblick dafür gefunden hatte. Er wollte nichts erzwingen und hoffte, dass es sich spontan ergeben würde.
Der Abend war angebrochen und es wurde so langsam kalt. Auf einem einsamen Schotterweg hatte Franck Svetlana gefragt, ob sie Lust hätte mit ihm gemeinsam zu Abend zu essen. Überrascht von diesem unerwarteten Vorschlag, hatte sie mit der Antwort gezögert. „War sie vorzeigbar?“, „Welche Absichten verfolgte dieser junge Mann?“ Eine peinliche Unentschlossenheit war entstanden. Dieses Zögern hatte Franck erstaunt. Er bekam Zweifel. Hatte er sich zu überstürzt etwas zu weit vorgewagt und damit riskiert, das ganze Gefüge zu zerstören? Er hatte erwartet, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken ja sagen würde. Was hielt sie also zurück? Sie, die seine Hand den ganzen Nachmittag nicht losgelassen hatte!
„Einverstanden“ hatte ihm Svetlana plötzlich geantwortet. Ein einzelnes Wort, das nur mit großen Schwierigkeiten aus ihrem Mund gekommen war, als wäre es eine radikale Entscheidung für den Rest ihres Lebens…
Franck hatte Erleichterung verspürt. Ein Lächeln hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. Danach hatten sie den Park verlassen. Sie waren auf dem Weg, der auf der anderen Seite am Park entlangführte weitergegangen. Ihre Hände hatten sich nicht mehr losgelassen. Ihre Finger streichelten sich intensiver und häufiger. Sinnlichkeit hatte sich von ihren Handflächen ausgehend ausgebreitet.
Unterwegs waren sie aus irgendeinem belanglosen Grund mitten in der Unterhaltung ein erstes Mal stehen geblieben. Der tatsächliche Grund für diesen Stopp war instinktiv. Die beiden Turteltauben standen sich Auge in Auge gegenüber. Francks Blick glitt etwas nach unten, betört von der verführerischen Schönheit, die ihn mit Verlangen musterte. Oh ja, Svetlana strebte auf das gleiche Ziel zu wie Franck! Sie wartete nur noch darauf, dass er seinen Mut zusammennahm und ihr die Leidenschaft offenbarte, die ihn antrieb.
Franck hatte sich entschlossen ihrem Gesicht genähert. Er wollte die Zartheit dieser Lippen fühlen, die sich nur wenige Zentimeter von seinen eigenen entfernt in Position brachten. Als sie spürte, dass es jetzt sicher passieren würde, biss sich Svetlana mechanisch auf die Unterlippe und ein scharlachroter Tropfen trat aufreizend hervor. Sein Gehirn setzte aus. Von einer unerklärlichen Panik ergriffen, hatte sich Francks Körper von seinem ursprünglichen Ziel abgewandt. Er war auf Abstand geblieben und hatte den unsicheren Blick aus Svetlanas strahlend blauen Augen festgehalten, die sich fragte, warum und woher die plötzliche Unterbrechung gekommen war. Von seinen eigenen Instinkten im Stich gelassen, hatte er den Blick abgewendet und ihre Hand genommen, um den Weg fortzusetzen.
Franck versuchte zu verstehen, was der Grund für ihr Verhalten gewesen war, das diese Verletzung an ihrer Lippe verursacht hatte. Begehrte sie ihn so leidenschaftlich? Sein spontaner Versuch hatte mit einem Misserfolg geendet. Er hatte im letzten Augenblick kalte Füße bekommen, nur wenige Zentimeter von diesem Mund entfernt, der ihn verhöhnte und den er begehrte. Es war die einmalige Gelegenheit gewesen, auf die er von dem Augenblick an gewartet hatte, als er ihre Finger umschloss. Er hatte den Schlüsselmoment für eine Beziehung verpasst, den Startschuss, der es ermöglichte einen Schritt weiterzugehen. Denn erst wenn dieser wichtige Akt stattgefunden hatte, der einer Einladungskarte gleichkam und den Zugang zu einer großen beginnenden Leidenschaft gewährte, konnte eine Liebesbeziehung aufgebaut werden. Warum war es so kompliziert, sich zum ersten Mal zu küssen? Warum war es so beängstigend, wo doch jeder in der Lage war, zu erkennen, wann eine Person nur noch darauf wartete, dass es geschah? Ebenso wie er erkennen konnte, wann Lippen bereit waren sich mit seinen zu vereinen, war er in der Lage zu spüren, dass sich ihr Körper danach sehnte, sich in seine Arme zu schmiegen.
Jeder Mann wäre beim Anblick dieses Mundes und dieser vollen und glänzenden Lippen zusammengebrochen. Bevor der Abend zu Ende ging, musste Franck sie liebkosen. Er begehrte alles an ihr und verbot sich, sie genauso ungebunden wieder gehen zu lassen, wie sie gekommen war, da er wusste, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde, wenn er sich nicht so verhielt, wie es von ihm erwartet wurde. Er spürte, dass er diesem Treffen einen unvergesslichen Stempel aufsetzen musste.
Sie hatten ihren Weg auf der Suche nach einem Restaurant fortgesetzt und angenommen, dass zufällig eines vor ihnen auftauchen würde. Franck war in diesem Viertel, das er nicht kannte verloren. Sie liefen auf gut Glück weiter.
Sie waren ein zweites Mal mit der gleichen Absicht stehen geblieben. Sie betrachteten sich aufmerksam. Das Verlangen wurde größer. Sie verschlangen sich mit den Blicken. Keiner von ihnen hatte es gewagt, diese unbeschreibliche, unsichtbare Grenze zu überschreiten. Nur wenige Zentimeter trennten sie von einer Liebesbeziehung. Es war zu dumm! Franck war sich bewusst, dass Svetlana auf gar keinen Fall den ersten Schritt machen würde. Es lag an ihm zu handeln, er musste ihr zeigen, dass er den Mut besaß, sie zu küssen, um ihr auf diese Weise zu bestätigen, dass es zwischen ihnen dieses natürliche Verlagen gab, dass zwei Menschen empfinden, die sich gefallen und die sich unwiderstehlich zueinander hingezogen fühlen.
Franck hatte ein ähnliches Zögern wie beim ersten Versuch verspürt. Sie hatten sich wieder auf den Weg gemacht… Was war los? Franck spürte, dass Svetlana nur noch auf seine kühne Initiative wartete. Worauf konnte sie also hoffen? Er hatte zwei perfekte Gelegenheiten verstreichen lassen. Die dritte wäre die letzte und er musste alles aufbieten. Andernfalls konnte er der schönen Svetlana Lebewohl sagen: sie würde nichts mehr von diesem Versager hören wollen.
Alles an dieser jungen Frau bezauberte ihn: ihr Äußeres, ihr Benehmen, ihre Persönlichkeit. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart wohl, weil er Vertrauen zu ihr gefasst hatte. Wovor hatte er also Angst? Franck hatte gerade beschlossen, dass dieser Kuss im letzten Augenblick stattfinden sollte, damit ihm jämmerliche Versuche erspart blieben, die er ohne es zu wollen in den Sand setzen würde. Nach dem Abendessen und vor allem nachdem er etwas getrunken hatte, müsste sich sein Selbstvertrauen stärker bemerkbar machen.
Nach einer Weile war ein indisches Restaurant vor ihnen aufgetaucht. Die angeschlagenen Preise erwiesen sich als sehr vorteilhaft für Francks Geldbeutel. Svetlana schien allerdings von dem Gedanken, dort zu essen nicht sehr angetan zu sein. Außerdem wirkte der Ort wenig romantisch. Sie waren weiter geschlendert, bis sie zu einer sehr viel belebteren Kreuzung kamen. Um den Platz herum gab es mehrere Cafés und Restaurants. Das erste, dass sie aufgesucht hatten, schloss gerade die Türen für die Nacht. Die Wirtin war untröstlich. Sie hatten die Straße überquert, um in das Café auf der gegenüberliegenden Seite zu gehen. Die Fassade sah nicht sehr vertrauenserweckend aus, aber im Inneren war es sehr edel. Sogar etwas zu edel… Franck war klar, dass die Rechnung gesalzen sein würde. Egal! Die Frau in seiner Begleitung war jede Ausgabe wert. Er hatte nicht vor, sie sofort nach einem kurzen Abend zu bespringen. Nein! Er hatte sich vorgenommen, sie zu erobern und sie zu seiner nächsten Freundin zu machen.
Eine Kellnerin hatte sie in einer ruhigen und gemütlichen Ecke untergebracht. Um den Tisch standen zwei Lederbänke. Sie hatten sich unterhalten, bestellt, gegessen und getrunken. Das Verführungsspiel erreichte seinen Höhepunkt: Finger, die einander suchten, freudiges Lächeln, das auf strahlende Blicke folgte, klopfende Herzen, fesselnde Gespräche. Der Zauber entfaltete sich nach allen Regeln der Kunst.
Nachdem sie die horrende Rechnung bezahlt hatten, hatten sie sich auf die Suche nach einer Metro-Station gemacht. Svetlana wohnte in Montparnasse. Deswegen hatten sie die gleiche Linie genommen. Dadurch hatte Franck die Gelegenheit bekommen, sie bis nach Hause begleiten zu können.
Svetlana lebte in einem Wohnheim für junge Arbeitnehmerinnen. Das Zimmer war winzig. Die Miete war zwar für ein einzelnes Zimmer hoch, man konnte sich aber der Illusion hingeben, dass sie für diese Stadt akzeptabel war. Vor dem Tor des Gebäudes ergriff Franck als erster das Wort: „Ich habe einen sehr schönen Tag verbracht und ich…“
Er hatte keine Zeit den Satz zu beenden da streiften sich schon ihre Lippen, stießen aufeinander, drückten sich ein. Sie hatten sich gegenseitig angezogen. Genau in diesem Augenblick war eine Situation entstanden, die die kommenden Tage auf den Kopf stellen würde.
Ihre Zungen hatten Gefallen aneinander gefunden. Speichel wechselte den Besitzer. Ihre Körper waren miteinander verschmolzen. Mit diesem Kuss wurde sanft und genussvoll jede Menge Zärtlichkeit ausgetauscht, die sich in Feingefühl mit einer herben Note verwandelte. Nachdem sie sich so sehr begehrt hatten, war dieser Moment wie eine Erlösung für sie gewesen.
Svetlana hatte ihm mehrfach gesagt, dass sie reingehen müsste. Unter der Wochen wurden die Türen um ein Uhr morgens vom Hausmeister abgeschlossen. Am Wochenende blieben sie bis zwei Uhr geöffnet und sie näherten sich dieser Uhrzeit. Franck wollte sie nicht loslassen. Svetlana wollte nicht zu sich raufgehen. Der Augenblick des Glücks zog sich in die Länge.
Bevor sich ihre Arme endgültig entknoteten und ihre Lippen sich endgültig voneinander lösten, hatte Svetlana Franck gefragt, wann sie sich wiedersehen könnten.
Am nächsten Tag wollte sie abreisen, um sich Brüssel anzusehen. Sie würde erst am Dienstagabend wiederkommen. Da ihr Zug erst ziemlich spät abfahren würde, hatte Franck ihr vorgeschlagen, sie zum Bahnhof zu begleiten. Er würde sie hier abholen, sobald er mit seinem Tagwerk fertig wäre. Svetlanas Augen hatten an Stelle ihres Mundes geantwortet und sie hatte gelächelt, bevor sie das Treffen am nächsten Tag mit Worten bestätigte. Sie hatten sich ein letztes Mal geküsst.
Franck würde seinerseits für die Dauer von drei Wochen einen Gelegenheitsjob als Concierge und Wachmann in einem Wohnhaus antreten. Es handelte sich hierbei um eine Arbeit, die ihm keinerlei Befriedigung verschaffte. Dreck wegmachen und Mülltonnen rausstellen ermöglichte ihm nicht, sich so zu entfalten, wie er das wollte. Nur die Bezahlung erschien, dank einer zusätzlichen Prämienzahlung zum Vertragsende einigermaßen anständig. Diese wog den Vorteil, den ein festangestellter Hausmeister hatte auf, der darin bestand, dass er bei seiner Tätigkeit über eine vergünstigte, ja beinahe kostenlose Dienstwohnung verfügte. Dieses Privileg konnte sich im Herzen von Paris und bei einigen Wohnhäusern als Luxus herausstellen; eine Gunst, die anständige Arbeitgeber ihren Angestellten erwiesen, angesichts der astronomischen Höhe der Mieten in dieser gentrifizierten Stadt. Ein nicht zu leugnender Anreiz für manch einen festangestellten Concierge.
Ab jetzt gab es diesen Bonus aber nicht mehr. Er war von einer Regierung abgeschafft worden, die neue Gesetzestexte verabschiedet hatte und die meinte, dass diese Menschen – diese Aushilfskräfte, diese Gelegenheitsarbeiter – zu viel Geld verdienten, was sie erst recht in eine wirtschaftliche Unsicherheit stürzte. Seither gab es keine finanzielle Motivation mehr. Was fortbestand, war eine Art von Ekel: einerseits gegenüber der Regierung, die das Proletariat unterdrückte und nur im Interesse der höchsten Finanzwelt handelte, von der sie selber vollständig abhängig war – fast wie freiwillige Sklaven – und andererseits gegenüber der Arbeit, sobald diese im Widerspruch zur Erfüllung unserer wichtigsten Wünsche stand. Mit ihrer exzessiven Sparpolitik haben unsere Politiker eine Denkweise legitimiert und verankert, die dazu führt, dass sich ungesunde Praktiken entwickeln können. Ganz zu schweigen von der Entmutigung eines Arbeitslosen angesichts einer Arbeit, deren Bezahlung sich auf bedauerliche Weise dem Mindestlohn annähert. Wer konnte in Paris mit einem so niedrigen Lohn von ungefähr tausend Euro netto im Monat auskommen? Die Monatsmiete für ein anständiges 1-Zimmer-Appartement beträgt mindestens 700 Euro. Meistens liegt sie um die 800 Euro. Die Rechnung ist einfach und schnell gemacht. Ein erbärmliches Einkommen kann kein ehrliches Dasein ermöglichen. So ein Einkommen sichert gerade mal das Überleben.
Das Leben eines Menschen bedeutet nicht viel. Das einzige was zählt, ist die Anhäufung von Reichtümern, von Privilegien… Wenn der kleine Mann auf der Straße landet oder verhungert, hat das keine große Bedeutung… Wenn man ein Nichts ist, tut man gut daran schnell wieder zu Nichts zu werden… Politiker sind die Freunde der Reichen. Hand in Hand verteidigen sie nicht die Interessen des Volkes. Sie sind gerade einmal in der Lage lange und schöne Vorträge zu halten, um die Massen noch mehr einzulullen, die anfangen könnte sich zu rühren, sich zu empören oder sogar den Wunsch haben könnte zu revoltieren. Im besten Fall schaffen sie es, ein wenig Verachtung für den Pöbel aufzubringen. Selten mehr. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt neue Waffenverträge auszuhandeln oder sich an neuen Kriegen zu beteiligen. Die Bürger schreien vielstimmig „Stopp!“ Sie hören nicht hin und ignorieren das aufgebrachte Volk. Die Kluft zwischen der Regierung, die den Kontakt zur sozialen Realität verloren hat und der Bevölkerung ist unverzeihlich. Diese Politiker und Wirtschaftsbosse sind unser Ruin. Sie sind für all das Elend in einem Land verantwortlich.

Franck hatte die junge Frau dabei beobachtet, wie sie das Gebäude betrat. Sie war jetzt offiziell seine neue Freundin. Danach hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht, 30 Minuten Fußmarsch bis zur Metro-Station Denfert-Rochereau. Unterwegs hatte er ein Lächeln auf den Lippen, seine Augen blitzten und im Kopf ging er den gemeinsamen Abend noch einmal durch. Am nächsten Morgen erwartete Franck etwas ganz anderes. Er musste früh aufstehen, die Ärmel hochkrempeln und ohne Überzeugung, Leidenschaft und Freude ackern, wie ein Roboter, ein lebender Toter.

Svetlana hatte soeben einen so außergewöhnlichen Tag erlebt, wie sie bis dahin noch nicht viele erlebt hatte. Sie hatte noch nicht viele Männer gekannt. Ihre Erfahrungen waren alle nur von kurzer Dauer gewesen. Sie setzte eine zarte Hoffnung in dieses Treffen. Was gab es romantischeres als zwei Menschen, die in zwei sehr unterschiedlichen Universen aufgewachsen waren und die es schafften, sich zu finden? Franck war es gelungen sie mit seiner Natürlichkeit, seiner Freundlichkeit und seiner Fähigkeit zuzuhören zu verführen. Er hatte sich aufrichtig für sie interessiert. Bevor sie sich auch nur zum ersten Mal geküsst hatten, hatte Svetlana gemerkt, dass sie ihm bereits etwas bedeutete. Außerdem hatte sie seine künstlerischen Seite bezaubert. Ein Künstler, der ein wenig gefangen war in seinen Träumen und seinem Leben, aber ein Original, auf das sie nicht jeden Tag treffen würde.

Svetlana lag in ihrem Bett, führte eine Hand über ihre Lippen spazieren und ließ die Ereignisse des Tages, der sie überwältigt hatte, noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Sie fragte sich, warum ihre vorherigen Begegnungen kein so heftiges Verlangen hervorgerufen hatten. Was war anders an diesem Franzose, der doch auf den ersten Blick so normal wirkte? Franck war die Art von großem, schlanken und braunhaarigen jungem Mann mit einem Allerweltsgesicht und kurzen Haaren, dem man in allen Städten begegnen konnte. Ein drei-Tages-Bart versteckte die etwas eingefallenen Wangen und verlieh ihm, je nachdem wie lange die letzte Rasur zurücklag, dieses etwas schlampige oder verwegenen Aussehen, weit entfernt von den engelsgleichen Normen eines glatthäutigen Bürokraten. Franck hatte sich ihr gegenüber so zuvorkommend und aufmerksam gezeigt, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte, als ihm zu verfallen. Hatte sie gerade jemanden kennengelernt, der sie wunschlos glücklich machen, und der sie neue und schöne Gefühle entdecken lassen würde? Der Mann, der ihr Leben prägen würde? Derjenige, in den sie sich wirklich verlieben würde? Svetlana verspürte ein starkes Bedürfnis, ihn schnell wiederzusehen, um das, was sie fühlte zu bestätigen. Sie hatte es auch eilig, wieder in seinen Armen zu liegen. Sie begann zu träumen und zu hoffen… Svetlana hatte noch niemanden mit Leidenschaft geliebt. Im geheimen sehnte sie sich danach, dass sich dieses Wunder ereignen würde. Warum nicht jetzt? War es riskant, sich Hals über Kopf auf einen Franzosen einzulassen, der mehr als 7000 Kilometer von ihr entfernt lebte? Knallte sie in eine Wand, ohne sich davon wieder erholen zu können? Mit dieser Unmenge an Fragen, die an ihr zerrte, zermarterte sie sich ihren Kopf. Sie konnte nicht einschlafen. Obwohl sie im Innersten aufgewühlt war, fühlte sie sich ruhig. Noch kein Mann hatte so ein gekonntes Verführungsspiel an den Tag gelegt und das Verlangen im Laufe eines Tages derart gesteigert. Das Glück hatte sich soeben offenbart. In diesem Augenblick hatte Svetlana gespürt, dass es dieses Mal anders sein würde als bei ihren vorherigen Beziehungen.

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