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Verwandte Lügen
Dawn Brower


Verwandte Lügen

Inhalt
1. KAPITEL EINS (#u180591c9-8c4a-53bf-9475-e990334cb003)
2. KAPITEL ZWEI (#ue987ae75-ecc7-56d8-bb4c-54a8697b5bef)
3. KAPITEL DREI (#u22c7d2e5-003a-5711-bc84-6ce0b0d3889c)
4. KAPITEL VIER (#ubb33f8ab-c0e5-5bbb-b95b-e21a8bb0b268)
5. KAPITEL FÜNF (#u73596344-82ac-5cb7-8ce8-83cbbe45c7de)
6. KAPITEL SECHS (#u69cb21dd-357f-5140-8fb0-09433ed2e70c)
7. KAPITEL SIEBEN (#u6ff362d1-0f0c-56c6-b742-6f3c90464d8b)
8. KAPITEL ACHT (#uc1856df0-0d21-54a0-8403-62907b9022ca)
9. KAPITEL NEUN (#ub388f2a5-fe78-5ece-9bae-28b61d87040c)
10. KAPITEL ZEHN (#u21d44500-10f5-56cb-8014-365ffa4878ea)
11. KAPITEL ELF (#u7d7ad0ab-7e5b-5c08-a730-fbd2882ee810)
12. KAPITEL DREIZEHN (#u01341037-8e3a-548f-8af0-8f3f38f586d5)
13. KAPITEL VIERZEHN (#u94b13577-7403-58b3-8b89-6e418968fb0c)
14. KAPITEL SECHZEHN (#u187ff8ef-1dd7-530b-ade9-a93450e15199)
15. KAPITEL SIEBZEHN (#u8dcf4128-3f03-5952-a646-c9ccce532818)
Epilog (#ua1196d75-5cff-50e6-824b-f531781b59da)
ÜBER DIE AUTORIN (#ub5ec3620-3717-549b-abe5-67b97e835d84)
Die Handlung in diesem Buch ist frei erfunden. Alle Namen, Personen, Orte und Ereignisse sind Produkte der Fantasie der Autorin und existieren in Wirklichkeit nicht. Jede Ähnlichkeit mit realen Orten, Institutionen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.
Verwandte Lügen 2019 Copyright © Dawn Brower
Cover-Grafik und Bearbeitung von Victoria Miller
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung elektronisch oder gedruckt benutzt oder reproduziert werden, es sei denn, es handelt sich um kurze Zitate, die in Rezensionen enthalten sind.

KAPITEL EINS
Amethyst schlenderte auf ein idyllisches Hotel zu; das malerische weiße Haus war von einer weiten Veranda umgeben. Es war eher eine Pension als ein echtes Hotel. Die Tatsache, dass es einen Privatstrand hatte, machte es noch verlockender. Als sie den Parkplatz überquerte, bewunderte sie die Wellen mit der weißblauen Gischt, die sich am Ufer brachen. Seen und alle Arten von Gewässern hatten auf sie irgendwie eine entspannende Wirkung. Sie schloss die Augen und atmete den Geruch des Wassers in der Luft ein. Ein Gefühl der Ruhe überkam sie und sie fühlte sich zu Hause, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Zuhause eigentlich bedeutete.
Sie öffnete die Augen wieder und setzte ihren Weg zum Haupteingang fort. Sie erreichte ihn und betrat ein klimatisiertes Büro. An der Rezeption saß ein Mann, dessen umwerfendes Aussehen sie so überwältigte, dass ihr die Luft wegblieb. Im Profil sah man sein ebenholzschwarzes Haar, das ihm in ungebärdigen Wellen in den Nacken fiel, ein dazu passender Dreitagebart zierte seine kantige Kieferpartie. Mit den Zähnen biss er sich leicht auf die Lippen, so als ob er gereizt oder vielleicht nur in Gedanken versunken wäre. Amethyst hasste es beinahe, ihn zu unterbrechen, aber sie hatte bereits eine längere Reise hinter sich und brauchte dringend eine kleine Pause auf ihrem Zimmer, bevor sie mit ihren Nachforschungen begann. Sie räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. „Bitte entschuldigen Sie …“
Der Mann drehte sich sofort zu ihr um. Er schenkte ihr jetzt seine ganze Aufmerksamkeit und wieder verblüffte sie die pure männliche Schönheit, die sie vor sich sah. Er blickte sie an, Überraschung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, seine Augenbrauen hoben sich. Im Handumdrehen überwand er seine Verblüffung. Ihre Lippen öffneten sich und ihr blieb die Luft weg. Männer, die so atemberaubend aussahen, sollten verboten sein … Er erhob sich von seinem Platz hinter dem Empfangspult und kam langsam auf sie zu, um sie zu begrüßen, als sei nichts Denkwürdiges passiert. Sie rang um Fassung und riss sich mühsam zusammen, bevor er sie ansprach. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Amethyst biss sich anerkennend auf die Lippen. Unter seinem indigofarbenen Hemd zeichneten sich die Muskeln ab und die Jeans saß tief auf den Hüften seiner schlanken Figur. Verdammt … Amethyst weigerte sich, auf seinen Charme oder das umwerfende Gesicht hereinzufallen. Sie legte beide Hände auf das Empfangspult und antwortete: „Ich habe reserviert.“ Du lieber Himmel, hatte sie je zuvor so überheblich geklungen? Was, zum Teufel, war los mit ihr?
„Wie heißen Sie?“
Amethyst, immer noch von seinem guten Aussehen geblendet, antwortete mit einem verwirrten „Wie bitte?“ Sie musste sich wirklich zusammennehmen, wenn ein schlichter Pensionsinhaber eine solche Wirkung auf sie hatte. Wenn ihm die Pension überhaupt gehörte … Er konnte ja auch ein einfacher Angestellter sein.
„Ich brauche den Namen, auf den Sie reserviert haben.“ Mit einem breiten, amüsierten Schmunzeln lehnte er sich jetzt über das Empfangspult. Er betrachtete sie mit unverhohlener Anerkennung, seine türkisfarbenen Augen schienen vor Interesse zu funkeln. Amethyst schluckte mühsam. Nein. Er war nichts für sie …
Sie bemühte sich nach Kräften, lässig zu wirken, als sie erwiderte: „Oh, tut mir leid, ich bin schon eine Weile unterwegs und ein bisschen zerstreut. Ich habe auf Amethyst S. Keane reserviert.“ Na prima, sie wirkte sowieso schon wie eine Idiotin und jetzt klang sie auch noch so. Der Typ wurde wahrscheinlich jeden Tag von allen möglichen Frauen angestarrt. Sie hatte sich gerade in die Schlange der Frauen eingereiht, die ihm zu Füßen lagen. Eine tolle Art, Eindruck zu machen. Gute Arbeit, Amethyst. Sie konnte nicht anders, sie ärgerte sich über sich selber. Meistens hatte sie alles im Griff. Sie hatte nämlich mit einer Mutter aufwachsen müssen, die Entscheidungen aus einer Laune heraus traf, aber aus irgendwelchen Gründen sorgte der Typ vor ihr dafür, dass sie unter kompletter Gehirnerweichung litt.
„Ihre Anfangsbuchstaben sind A.S.K.?“* (*ask: englisch für fragen) Der amüsierte Ausdruck kam in seine Augen zurück, als er sie genau betrachtete. „Heißt das, dass ich Sie alles fragen darf?“ Er klang unbeschwert, fast herzlich. Wahrscheinlich hörte sie nicht richtig oder sie wollte etwas heraushören. Eine schwierige Frage, sie war sich nicht sicher.
Vielleicht lag sie falsch, aber sie glaubte, dass er versuchte, mit ihr zu flirten. Amethyst hatte normalerweise nicht viel Freizeit, daher tendierten romantische Treffen mit potenziellen Partnern gegen Null. Der Mann könnte sich während ihres Aufenthalts als nützlich erweisen. Natürlich nur dann, wenn es ihr gelang, dass ihr Gehirn in seiner Gegenwart in die Gänge kam. Falls er ein Einheimischer war, könnte er ihr vielleicht bei den Nachforschungen behilflich sein. Dazu war es unbedingt geboten, zurückzuflirten. Sie klimperte so provozierend wie möglich mit den Wimpern und führte sein charmantes Wortgeplänkel fort. „Aber sicher, es steht auch so bei meinem Namen in der Zeitschrift, für die ich schreibe. Meine Mutter muss gleich gewusst haben, dass ich neugierig bin, also hat sie mir von Anfang an ein Warnetikett verpasst.“ Sie sagte ihm nicht, dass sie Chefredakteurin bei der Zeitschrift war, die ihr gehörte und von ihr geführt wurde … „ASK Magazine“ war ihr Kind, sie hatte es in ihren frühen Highschool-Jahren gegründet. Das war jetzt … drei Jahre her. Im Alter von siebzehn Jahren eine Zeitschrift ins Leben zu rufen war ein ehrgeiziges Unterfangen. Irgendwie war es ihr nicht nur gelungen, sondern sie hatte sie auch erfolgreich weiterbetrieben. Es bedeutete viel Arbeit, aber sie konnte sich nichts vorstellen, was sie lieber täte. ASK war ihr Leben und hatte sie, noch bevor sie achtzehn wurde, zu einer wohlhabenden Frau gemacht. Jetzt war sie fast zwanzig und konnte so ziemlich alles tun, wozu sie Lust hatte. Die Zeitschrift war hauptsächlich digital, aber man konnte sie auch gedruckt kaufen, falls das jemand lieber mochte. Im Zeitalter des Lustprinzips erzielte die digitale Ausgabe immer höhere Verkaufszahlen als die gedruckte Version jemals erreichen würde. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor ihr. Wenn sie seine Hilfe wollte, mussten ihre Flirtversuche besser werden. Sie war, ehrlich gesagt, eine Niete im Flirten und das war schon immer so gewesen.
„Wofür steht denn das S?” fragte er und lachte leise.
Sie seufzte, weil sie es wirklich hasste, ihren zweiten Vornamen zu gestehen, den Mutter ihr angehängt hatte. Die Anfangsbuchstaben waren lediglich praktisch aufgrund des Wortes, das sie bildeten. Amethyst hatte ihren Mittelnamen nie gemocht und konnte sich auch nicht vorstellen, ihre Meinung in absehbarer Zeit zu ändern. „Solstice“, gab sie widerwillig zu.
Er reagierte auf den ungewöhnlichen Namen nicht wie erwartet. Stattdessen schlug er eine völlig andere Denkrichtung ein und zeigte seinen eigenen Hang zur Neugierde. Ein ansteckendes Lächeln lag auf seinem gutaussehenden Gesicht, als er antwortete: „Das ist wirklich interessant. Ihre Mutter glaubte bei der Namenswahl an Kreativität. Haben Sie Geschwister? Tut mir leid, wenn das zu persönlich klingt, aber ich bin neugierig, ob sie den hohen Standard durchhalten konnte, den sie sich selber gesetzt hat.“
Amethyst schüttelte langsam den Kopf; sie war ganz benommen, weil sie direkt in die faszinierend blaugrünen Tiefen seiner Augen starrte. „Ich bin leider ein Einzelkind. Es war recht bald klar, dass sie kein zweites so tadelloses Kind wie mich produzieren konnte, also gab sie es auf. Warum noch mehr Versuche, wenn sie die Perfektion schon hinbekommen hat.“
Ihre Mutter war, ehrlich gesagt, äußerst flatterhaft, aber sie hatte keine Lust, ihre Tendenz zu Überreaktionen zu erklären. Sogar selbsternannte Melodramatiker verblassten oft beim Vergleich mit ihr.
„Ich kann nicht behaupten, dass sie da falsch liegt. Alles, was ich bisher sehe, ist ideal.“
„Was soll ich dazu sagen? Ich bin eben ziemlich perfekt.“ Bevor sie noch überlegen konnte, rutschte ihr dieser ironische Kommentar heraus, den sie nur gedacht hatte. Am Ende könnte diese Reise sogar Spaß machen. Immer vorausgesetzt, ihre Mutter würde nicht auftauchen und alles ruinieren. Lyoness Keane tat sich schwer, es länger an einem Ort auszuhalten.
„Ihre Mutter muss eine tolle Frau sein, wenn sie so eine wunderbare Tochter wie Sie hat.“ Seine Lippen zuckten leicht, als er dagegen ankämpfte, laut loszulachen.
Solche Kommentare zeigten, wie der äußere Schein trügen konnte. Als sie aufwuchs, hatte sie so viele verschiedene ‚Väter‘ gehabt, dass sie den echten nicht mal erkannt hätte, wenn er direkt vor ihr gestanden wäre. Sie wusste, dass ihre Mutter keine tiefen Gefühle für die Männer in ihrem Leben empfand. Sie waren einfach ein Mittel zum Zweck, um ihr über die Einsamkeit hinwegzuhelfen. Wenn die Beziehung ins Auge ging, nahm sie Amethyst und versuchte ihr Glück eben woanders. Leider wartete das Glück auch woanders nicht. Deshalb hatte Amethyst letztendlich keine Wurzeln und gehörte nirgendwohin.
„Äh, ja, Mutter sieht großartig aus.“ Das war keine Lüge. Lyoness Keane sah wunderbar aus und hätte Model werden können, wenn sie diese Laufbahn eingeschlagen hätte. Stattdessen wollte sie verwöhnt werden und fand reiche Männer, die sich ihrer annahmen.
„Bestimmt, da bin ich sicher“, antwortete er und sein Ton blieb freundlich. „Na gut, jetzt checken wir Sie mal ein.“ Er tippte auf ein paar Tasten des Computers. Dann blickte er auf und meinte: „Ich muss das jetzt fragen: Haben Sie einen Spitznamen? Amethyst ist schon recht umständlich.“
„Nein. Ich war schon immer Amethyst.“ Vielleicht sollte sie ja einen Spitznamen haben, aber das würde bedeuten, dass sie Freunde hätte, die sie so nannten. Was das anging war es nicht hilfreich, wenn man dauernd umzog. Daher gab sie nach einer Weile auf und blieb für sich. Das war teilweise auch der Grund, warum sie schon in sehr jungen Jahren ihre Zeitschrift gründen konnte. Sie tat nicht das, was normale Jugendliche machten; die Zeitschrift half ihr zu vergessen, wie einsam ihr Leben sein konnte.
Er lächelte und zwinkerte ihr zu, als er in die Tasten tippte. „Das müssen wir ändern, während Sie bei uns sind.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er den Bildschirm betrachtete. „Ach, da sind Sie ja. Ich sehe, dass Sie ein paar Wochen bei uns bleiben werden. Wenn Sie nicht mehr wissen, was Sie unternehmen sollen, dann kommen Sie doch einfach zu mir.“
Amethyst bekam bei seinen Worten große Augen. Hatte er sie gerade angemacht? Niemand hatte jemals so offen mit ihr geflirtet. Ihre Art des Flirtens von vorhin erschien ihr jetzt plump und unbeholfen. Wollte sie wirklich wissen, wohin das führte? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ein Mann jemals so angezogen hatte. Er war fast zu gutaussehend, es schmerzte, ihn anzuschauen. Nach ein paar Minuten des Schweigens begann er draufloszureden und riss sie zurück in die Gegenwart.
„Ich wollte eigentlich sagen, dass ich schon immer hier lebe und wahrscheinlich mehr hiesige Sehenswürdigkeiten kenne, als man auf irgendwelchen Websites findet. Du lieber Himmel, ich vermassle alles mit meinem Gerede. Ich heiße Cooper und würde mich total freuen, wenn ich ein bisschen Zeit mit Ihnen verbringen könnte, während Sie hier sind.“
Wie charmant. Er dachte, er müsste alles erklären. Amethyst mochte ihn sofort und dachte, dass sie ihn gerne besser kennenlernen würde. Sie lächelte ihn kurz und ermutigend an. „Nett, dich kennenzulernen, Cooper.“ Sie war völlig durcheinander … „Ich bin Amethyst, aber das weißt du ja schon.“ Konnte man eigentlich einen noch konfuseren Eindruck machen? „Kann ich jetzt den Zimmerschlüssel haben?“
Er hatte ihn in der Handfläche gehalten. Wenn sie richtig riet, dann wollte Cooper ihn einfach nicht loslassen. Er sah auf seine Hand hinunter und murmelte erstaunt: „Ach ja, genau, das wäre wahrscheinlich nützlich. Du hast Zimmer dreizehn. Es ist oben, am Ende des Flurs.“ Er reichte ihr die Schlüssel und zeigte zum Treppenaufgang neben dem Empfangsbereich.
„Danke“, antwortete sie, als er den Schlüssel in ihre Hand fallenließ.
„Ich wünsche einen schönen Aufenthalt.“ Ein Schatten der Enttäuschung lag in seinen Augen.
Sie wollte ihn zwar besser kennenlernen, aber auch keinen falschen Eindruck erwecken. Sie stürzte sich nicht auf jede Gelegenheit, mit einem Mann etwas anzufangen. Sie respektierte sich selbst zu sehr, um sich in den erstbesten gutaussehenden Mann zu verknallen, der bei ihr Gefühle auslöste. Amethyst Keane würde sich nicht so verhalten, als ob sie leicht zu haben wäre. Wenn sie sich entschied, dieses Ding mit ihm weiterzuverfolgen … dann wäre es eine sorgfältig überlegte Entscheidung. Er war nett und sie wollte später seine Hilfe in Anspruch nehmen, also weckte sie in ihm eine kleine Hoffnung, an die er sich klammern konnte. „Vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück.“
„Wirklich?“ Er zog neugierig die Augenbrauen hoch.
„Ich melde mich später, wenn ich mich ausgeruht habe.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn stehen. Amethyst hielt kurz inne und betrachtete den Raum. Ihr fiel der kunstvoll eingerichtete Hauptbereich der Pension auf. Ein kleines Sofa und zwei Plüschsessel neben einem Tischchen standen vor dem offenen Kamin mit Marmorsims. Die Marmoreinfassung des Kamins wies detailliert ausgearbeitete Schnitzereien auf. Sie hätte gerne die Finger darüber gleiten lassen und jede Einzelheit studiert, aber dazu war später noch Zeit. Erst mussten dringendere Dinge erledigt werden, bevor sie sich irgendwelche Launen erlauben konnte. Sie wandte sich um, schenkte Cooper ihre ganze Aufmerksamkeit und lächelte ihn an, bevor sie auf die Treppe zuging. Vor dem Treppenaufgang drehte sie sich noch einmal um und sah, dass er sie wieder anstarrte.
Aber ja doch, ich kann mich an dir auch nicht sattsehen, dachte sie.
Sie lächelte ihn zurückhaltend an und sagte: „Ich habe vergessen zu fragen, wo man gut essen kann.“
Er begann zu strahlen, als ob er gerade den größten Preis seines Lebens gewonnen hätte. In diesem Lächeln lag Coopers ganzer überwältigender Charme. Amethyst neigte den Kopf und wieder kam ihr der Gedanke, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn näher kennenzulernen.
„Im Dorf gibt es nur zwei Lokale. Wahrscheinlich bist du auf dem Weg hierher schon daran vorbeigekommen. Ein kleines italienisches Restaurant, das wirklich tolle Pizzen und Nudelgerichte macht. Es heißt Giovanni’s. Wenn du lieber etwas Bodenständiges willst, dann schlage ich das North Point Café vor.“
Nun, das war ja eine größere Auswahl, als sie erwartet hatte. Sie nickte ihm zu und erwiderte: „Danke.“
Cooper sah enttäuscht aus, vielleicht, weil ihrer Frage keine Aufforderung zum Mitkommen folgte. „Aber bitte, gerne.“
Er hatte bestimmt gedacht, sie würde ihn bitten, sie zu begleiten. Vielleicht ein anderes Mal, aber heute hatte sie keine Lust auf Gesellschaft. Sie brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten und einen Plan zu entwerfen. Sie wandte sich wieder der Treppe zu und stieg nach oben. Jeder Schritt brachte sie näher zu dem Zimmer, das für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein würde. Bisher nahm dieser Urlaub den Spitzenplatz auf der Liste ihrer Lieblingsorte ein, an denen sie je gewesen war. Sie hoffte nur, dass er all ihren Erwartungen entsprechen würde.

KAPITEL ZWEI
Amethyst stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Cooper konnte nicht wegsehen, selbst wenn er es versucht hätte. Es sandte ein stilles Dankgebet an seinen Schutzengel, der sie in seine Familienpension geführt hatte. Noch nie war eine so reizvolle Frau in der Pension abgestiegen. Ihr vertrautes Gesicht hatte ihn zuerst sprachlos gemacht und er musste seine ganze seine Beherrschung aufbringen, um wieder reden zu können. Als er das erste Mal aufgeblickt und sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, dass er sich diese Frau nur einbildete. Sie hatte herrliche Mitternachtslocken, die ihr über die Schultern fielen. Ihre durchdringenden olivgrünen Augen fesselten ihn sekundenlang. Während er sie betrachtete, fragte er sich, ob es in seiner Pension tatsächlich spukte, wie das einheimische Überlieferungen behaupteten. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er der Sprache wieder mächtig war. Er war entzückt festzustellen, dass diese Frau wirklich in Fleisch und Blut vor ihm stand und kein Produkt seiner Fantasie war. Sie wies eine unglaubliche Ähnlichkeit mit einer Person auf, von der jeder glaubte, dass sie vor vielen Jahren gestorben sei. Amethyst Keane war ein Rätsel und er beabsichtigte, alle ihre Geheimnisse zu lüften. Zum Glück würde sie einige Wochen im Dorf bleiben, das gab ihm die nötige Zeit, alles über sie herauszufinden.
Die Tür zur Pension flog auf. Cooper blickte hoch und sah seinen besten Freund Benjamin Anderson hereinkommen. Sie waren beide Einheimische und hatten die 21 Jahre ihres Lebens in North Point verbracht. Ihnen wurde auch beiden ein Teil des jeweiligen Familiengeschäfts übertragen. Sie hatten keine College-Ausbildung. Aufgrund der Erwartungen ihrer Familien waren solche Zusatzausgaben unnötig. Trotzdem hatte Cooper an einigen Business-Online-Kursen teilgenommen. Wie konnte sonst von ihm erwartet werden, dass er ohne wirkliche Kenntnisse eine profitable Pension betrieb? Seine Familie verließ sich zu sehr darauf, dass er den täglichen Betrieb schon in Schwung hielt. Sein Freund befand sich in einer ähnlichen Situation, hatte aber nie Anzeichen von Interesse an einer Weiterbildung gezeigt.
Ben schlenderte auf das Empfangsspult zu und stützte sich auf. „He, Coop, kannst du hier weg? Wir könnten mit dem Boot rausfahren.“
Cooper schüttete den Kopf. „Würde ich gern, aber ich habe hier zu viel zu tun. Olivia hat heute frei, also bin ich den ganzen Nachmittag im Einsatz. Vielleicht können wir das morgen machen. Du weißt ja, mein Vater kommt nicht mehr oft bis hierher zur Pension.“
Benjamin runzelte die Stirn, dann meinte er: „Verdammt, das ist echt schade. Es hätte Spaß gemacht. Ich habe in diesem Jahr noch keine Chance gehabt, das Boot zu nutzen. Die Arbeit war mörderisch. Jetzt habe ich endlich mal einen freien Nachmittag und mein bester Kumpel lässt mich hängen.“
Bens Familie gehörte die einzige Baufirma des Dorfes. Es verging kein einziger Tag ohne Aufträge, die nur so hereinströmten und erledigt werden mussten. Monate oder Jahreszeiten spielten keine Rolle, weil in der Umgebung so viel Arbeit anfiel. Die Aufträge waren so zahlreich, dass sie oft Probleme hatten, Schritt zu halten. Zum Glück hatte Anderson Construction mehrere Angestellte, die halfen, das Arbeitspensum zu bewältigen. Ben war der jüngste von fünf Brüdern, jeder von ihnen hatte eine Stellung in der Baufirma. Als Nesthäkchen der Familie verhielt sich Ben jedoch manchmal wie ein leicht verzogenes Kind.
Cooper und Ben waren Freunde seit Kindergartenzeiten. Cooper hatte sich so sehr an Bens narzisstische Persönlichkeit gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Ben verkörperte die Aussage: Ich und perfekt? Aber sicher! Kommt gefälligst klar damit. Ben fand trotz der Arbeit immer freie Zeit, um abzuschalten. Cooper konnte es ihm kaum übelnehmen. Sie waren jung und sollten auch ein bisschen Zeit für Spaß haben. In dieser Sommerperiode brauchte Ben mit Sicherheit etwas Auszeit. Zu dieser Jahreszeit war am meisten los …
Aber Cooper trug Verantwortung und konnte sich nicht einfach „verziehen“, um abzuhängen, wie Ben das mal so prägnant formuliert hatte. Es gab niemanden, der für ihn einsprang, wenn er nicht in der Pension war. Zeit mit seinem Freund auf dem See zu verbringen klang wunderbar, aber es war einfach nicht zu machen. Egal, wie sehr Ben drängte, nichts änderte die Tatsache, dass er als Einziger in der Pension anwesend war, um sich um die Gäste zu kümmern. Er war nicht einmal sicher, ob er mitkommen würde, selbst wenn er könnte. Nicht, wenn Amethyst Keane eine der neuesten Hausgäste war. Sie hatte sich zu einer fixen Idee entwickelt und er wollte zur Verfügung stehen, falls sie beschloss, sein Angebot anzunehmen. „Ich wollte, ich könnte mitkommen.“ Er warf Ben sein nettesten, aber bedauerndes Lächeln zu. „Ich habe einfach zu viel zu tun.“
„Wann sind wir eigentlich so erwachsen und wie unsere Väter geworden?“ fragte Ben mit Abscheu in der Stimme.
„Gleich nach der High-School – und wir haben uns sogar kopfüber hineingestürzt.“ Cooper lachte leise. Das Lachen musste sein, sonst würde er nachgeben. Er hasste sein Leben nicht, es war einfach so, dass … er manchmal wünschte, er hätte andere Möglichkeiten.
Ben schüttelte angewidert den Kopf. „Wir sind einundzwanzig Jahre und mir geht es so, als hätten wir diese Stadt und die Erwartungen an uns total verinnerlicht. Ich denke ans Aufhören.“
„Nein, das geht nicht. Ohne dich wäre es hier nicht mehr dasselbe.“ Aus den Augenwinkeln nahm Cooper eine Bewegung wahr und wandte sich um, er wollte sehen, was los war.
Amethyst kam mit einem kleinen Tragebeutel die Treppe herunter. Ihre ebenholzschwarzen Locken waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, ein paar Strähnen hingen hinten heraus. Sie hatte eine Sonnenbrille auf den Kopf geschoben und trug schneeweiße Shorts zu einem grünen Top, das exakt dieselbe Farbe wie ihre Augen hatte. Sie sah Ben und Cooper und lächelte. Ben war von ihrem charmanten Grinsen genauso hingerissen wie Cooper, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Amethyst war merkte es zwar nicht, aber die beiden waren bereits Wachs in ihren Händen. Cooper richtete sich neben dem Empfangspult sehr gerade auf und als sie näherkam fragte er: „Machst du dich auf den Weg, unser schönes Dorf zu erkunden?“
„Oh ja, ich kann es kaum erwarten, alle Geheimnisse zu entdecken.“ Amethyst nickte begeistert.
Cooper grinste, dann sagte er: „Ist das alles? Na, dann wirst du in etwa fünf Minuten wieder da sein. Richtig, Ben?“
Ben hatte vor Überraschung einen ganz glasigen Blick. Wenn Cooper es nicht besser wüsste, würde er denken, sein Freund hätte noch nie zuvor eine schöne Frau gesehen. Er hatte große Lust, ihm einen Schlag auf den Kopf zu versetzen. Vielleicht sollte er diesem Drang ja nachgeben …
„Was?“ Bens starrte Amethyst weiterhin völlig überwältigt an.
Cooper schüttelte ungläubig den Kopf. Sobald Amethyst weg war, wollte er ein ausführliches Gespräch mit seinem besten Kumpel führen. Es kam überhaupt nicht in Frage, ihm zu erlauben, in einen Bereich einzudringen, den er als sein Revier betrachtete, bester Freund oder nicht. Er hätte gern mit der Faust auf das Pult geschlagen und kindisch geschrien: „Besetzt!“ Er fand Amethyst wirklich nett und wollte nicht, dass Ben ihm jede Chance ruinierte, sie besser kennenzulernen. Jetzt würde er Ben erstmal aus seinem Schwebezustand reißen und das aktuelle Gesprächsthema erläutern.
„Es geht um Dorfgeheimnisse. Die aufzudecken sollte nicht lange dauern.“ Er sprach langsam und deutlich, damit seine Worte in das umnebelte Gehirn seines Kumpels eindringen konnten.
Ben starrte ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Dann kratzte er sich am Kopf und betrachtete ihn, als hätte er den Verstand verloren. „Was denn für Geheimnisse? Bist du auf den Kopf gefallen?“
Amethyst lachte und erklärte: „Oh, jeder Ort hat Geheimnisse. Man muss nur wissen, wem man Fragen stellt.“
„Ach, und wie willst du das wissen, wenn du nicht von hier bist?“
Cooper verstand nicht ganz, was sie andeuten wollte.
Amethyst zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich habe ja noch niemanden getroffen außer dir – und deinem Freund, nehme ich mal an. Obwohl ich seinen Namen noch nicht weiß.“ Sie starrte ihn an und wartete, dass er ihn vorstellte.
Eigentlich wollte Cooper ihr Ben nicht vorstellen. Vielleicht machte ihn das zu einem gemeinen Freund, aber er kannte Ben zu gut, als dass ihn das gestört hätte. So, wie die Dinge standen, wollte er mit Ben ein privates Gespräch führen und dazu musste Amethyst gehen. Er war höchste Zeit, mit dem Freund die zukünftige Sachlage zu klären. Je schneller, umso besser. Er würde seinen Jugendfreund nur sehr ungern umbringen, weil er aufdringlich war. Aber jetzt durfte er nicht so unhöflich erscheinen wie ihm zumute war.
„Das ist mein bester Freund Ben Anderson. Ben, das ist Amethyst Keane. Sie ist erst heute Nachmittag angekommen.“
Ben schien endlich die Spinnweben aus seinem Gehirn zu wischen und lächelte Amethyst an. Er streckte die Hand zur Begrüßung aus. „Schön, dich kennenzulernen. Wohin genau willst du? Vielleicht kann ich dir helfen? Immerhin bin ich der Beste im Dorf, was Führungen angeht, meine ich.“
Cooper musste sich zusammenreißen, um seinen besten Freund nicht zu erdrosseln. Seine Mordlust wurde geradezu überwältigend. Er biss die Zähne zusammen und seine Finger umklammerten die Ecke des Empfangspults. Er hoffte inständig, dass sie ihm nicht erzählte, was sie geplant hatte.
„Oh, ich möchte keine Begleitung, aber danke für das Angebot. Wenn ich das erste Mal an einen Ort komme, entdecke ich ihn gerne ganz allein. Ein andermal – vielleicht brauche ich irgendwann einen Stadtführer, während ich da bin.“
Ein listiges Grinsen glitt über Bens Gesicht. Seine Absichten waren glasklar. Er verbeugte sich vor Amethyst und erwiderte: „Ich stehe dir zur Verfügung, wenn du Spaß haben willst. Bitte, so wird dir gegeben werden. Gib Bescheid und ich stehe dir ganz zur Verfügung.“
Aber sicher. Cooper beschloss, dass er nach Amethysts Abgang seinen besten Freund definitiv ermorden musste. Überhaupt, wer brauchte schon einen besten Freund?
Dessen volles, kehliges Lachen erfüllte den Raum. Amethyst grinste ihn etwas verwirrt an. „Bis nächstes Mal dann.“
Ben konnte nicht wollüstiger aussehen, selbst wenn er es versucht hätte. „Ich warte mit angehaltenem Atem, dass du mich anforderst – wenn du wünschst, dass ich mich dir widme, frage einfach Coop, wie du mich erreichen kannst.“
Sie nickte und machte sich auf den Weg zur Eingangstür. „Ich werde es mir merken. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss unbedingt meinen Dorfbummel machen. Einen schönen Nachmittag noch.“
Amethyst ging zur Tür und verließ die Pension. Cooper und Ben starrten ihr nach, beide konnten einfach nicht wegsehen, bis sie außer Sicht war.
Ben presste die Hand auf sein Herz und pfiff. „Das ist das tollste weibliche Wesen, das ich je gesehen habe.“
„Sie gehört mir, halt dich gefälligst zurück. Ich habe sie zuerst gesehen.“ Cooper gelang es nicht, den Frust in seiner Stimme oder die Verärgerung auf seinem Gesicht zu verbergen, als er Ben wütend anstarrte.
„Versuch’s doch, Junge. Die Dame hat die Wahl, und ich werde dafür sorgen, dass diese Wahl auf mich fällt.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.
Cooper kam der Gedanke, dass Ermorden zu gnädig für ihn wäre. Er sollte auf jede erdenkliche Art leiden. Sie hatten vorher noch nie um eine Frau gekämpft, aber für alles gab es bekanntlich ein erstes Mal. „Gut – möge der Bessere gewinnen. Wir wissen beide, dass ich das bin. Also, wenn du den Schaden in Grenzen halten und das Gesicht wahren willst, dann verstehe ich das.“ Er trat einen Schritt vom Pult zurück und zeigte ein selbstzufriedenes Lächeln.
„Auf keinen Fall, Coop. Das Spiel läuft. Vergiss nicht, Amethyst meine Nummer zu geben. Ich weiß, dass sie mich irgendwann erreichen will.“
„Du bist dir deiner so sicher? Ich glaube es nicht“, antwortete Cooper, erstaunt über seine Arroganz. „Ich bin nicht dein Lakai. Wenn du willst, dass Amethyst deine Nummer hat, dann gib sie ihr selber.“
Ben nickte Coop zu, als er zur Tür ging. Als er sie erreicht hatte, hielt er inne und blickte Coop über die Schulter direkt in die Augen. „Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung … Diese Frau ist geradezu dekadent schön. Ich brauche deine Hilfe nicht, um sie zu erobern. Sie gehört mir schon. Bis später, Coop“. Ben lachte und verließ die Pension.
Konnte es noch schlimmer kommen? Da hatte er endlich seine Traumfrau getroffen und sein bester Freund hechelte ihr hinterher. Es musste doch möglich sein, Ben davon abzubringen, sie aufzureißen. Zur Hölle, wem machte er etwas vor? Ben gab nie auf, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er würde auch jetzt nicht damit anfangen. Außerdem hatte er in einem recht: Es war Damenwahl. Cooper musste nur sicherstellen, dass sie die richtige Wahl traf und er der Auserwählte war.
Als erstes wollte Cooper alles, was möglich war, über Amethyst S. Keane in Erfahrung bringen. Beim Check-in hatte sie erwähnt, dass ihr Name in einer Zeitschrift zitiert wurde, für die sie irgendwelche Artikel verfasste. Er hoffte, das würde ihm einen ausgedehnten Einblick in ihre Vorlieben und Abneigungen verschaffen. Außerdem, und das war noch wichtiger, könnte es erklären, warum sie für den Urlaub gerade seine Pension gewählt hatte. Er brauchte nicht lange, bis er sie online fand. Er entdeckte etliche Artikel, die in der Zeitschrift ASK von ihr verfasst worden waren … Die meisten beschäftigten sich mit Pop-Kultur, aber jede Ausgabe hatte eine Reiserubrik mit der Beschreibung eines Ortes oder Landes, wo Amethyst gewesen war. In jedem Artikel schrieb sie über die Geschichte eines Ortes und über Dinge, die sie dort faszinierend oder verlockend fand. Den Grund, warum sie sich in North Point und im Trenton-Hill Inn aufhielt, fand er jedoch nicht. Er wusste aber etwas Faszinierendes, was ihn für sie attraktiv machen könnte …
Wenn er was Amethyst anging recht behielt, dann besaß Cooper alle nötigen Hilfsmittel, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Eine schöne Geistergeschichte würde sie auf einen Weg leiten. Einen Weg, der sie, wie Cooper wusste, geradewegs zu ihm zurückführen würde.

KAPITEL DREI
Amethyst schlenderte gedankenverloren den Fußweg entlang. Als sie aus der Pension gekommen war, hatte sie eine Brücke bemerkt, die zu einer Mole führte. Sie schlug diese Richtung ein, ohne lange zu überlegen, wohin genau sie gehen wollte, weil sie den beruhigenden Effekt des Sees brauchte. Aus unerfindlichen Gründen fühlte sie sich immer zu Gewässern hingezogen, wenn sie nachdenken wollte. Nach ihrem Zusammentreffen mit Cooper und Ben spürte sie, dass sie wirklich alles durchdenken musste.
Die Begegnung hatte sie verunsichert, normalerweise konnte sie ein solches Gefühl abschütteln. Ben Anderson sah wunderbar aus, er war von der Erscheinung her das Gegenteil seines Freundes. Cooper war eher der dunkle Typ, während Bens Teint heller, seine Haare blond und die Augen blau waren. Er hatte offenes Interesse an ihr gezeigt, sie brauchte es nur zu erwidern und das Angebot annehmen. Sie hatte jetzt zwei großartige Männer zur Auswahl und keine Ahnung, welchen sie lieber mochte.
Gerade, als sie die Stahldraht-Brücke am Sandstrand erreicht hatte, klingelte ihr Handy. Amethyst fischte es aus dem Beutel und schnitt eine Grimasse, als sie auf die Anruferkennung starrte. Lyoness Keane, ihre Mutter, versuchte, sie zu erreichen. Darüber freute sich Amethyst so gut wie nie. Ihre Mutter konnte so flatterhaft wie ein Taubenschwarm in der Luft sein. Ignorieren konnte man sie auch nicht, weil Lyoness Keane niemals aufgab. Sie würde einfach immer wieder anrufen, bis Amethyst mürbe war und antwortete. Das konnte sie auch gleich tun und herausfinden, was ihre Mutter wollte. Damit könnte sie das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Außerdem wurde es nicht einfacher, sich erst später mit ihr zu beschäftigen. Amethyst drückte die Annahme-Taste und hielt sich das Handy ans Ohr.
„Hallo, Mutter.“ Sie versuchte, die Gereiztheit in ihrer Stimme zu unterdrücken, was ihr misslang. Warum musste ein Gespräch mit Mutter so eine lästige Pflicht sein?
„Schatz, wo treibst du dich denn zurzeit herum?”, drang die schrille Stimme von Lyoness an ihr Ohr.
Was? Warum wollte sie ihren aktuellen Aufenthaltsort wissen? Das war schon wieder ein schlechtes Zeichen, wie sollte sie darauf reagieren? Hm … naja, sie konnte genauso gut ehrlich sein. Richtig? Was schadete es denn? Noch kein Grund zur Panik. Sie bekam Herzklopfen. Jetzt war es etwas zu spät für den Versuch, Ruhe zu bewahren, da ihr bereits alle möglichen Schreckensszenarien durch den Kopf wirbelten. „Ich bin in einem verschlafenen Dorf in Michigan, es heißt North Point.“ Sie versuchte, locker zu klingen und war sich nicht sicher, ob ihr das gelang. „Warum fragst du, Mutter?“
Lyoness ignorierte ihre Frage völlig und fragte: „Liegt das an einem See? Ich liebe die Großen Seen.“
Amethyst hatte Lust, zu schreien, aber sie ließ es sein. Wenn man es mit ihrer Mutter zu tun hatte, blieb man am besten so ruhig wie möglich. Stattdessen versuchte sie, das Thema zu wechseln und fragte ihre Mutter nach ihrer letzten Affäre.
„Wie geht’s Saul?“
Sie konnte fast bildlich sehen, wie ihre Mutter wegwerfende Handbewegungen machte, als sie erwiderte: „Ach, dieser Idiot. Wir haben letzte Woche Schluss gemacht. Zeit für eine Veränderung. Du weißt doch, wie das ist. Jetzt erzähl mir mal von diesem verschlafenen kleinen Dorf. An welchem See liegt es denn?“
Sie hätte sich denken können, dass Mutter und Saul Schluss gemacht hatten. Amethyst hätte nichts dagegen gehabt, wenn man die Liebhaber ihrer Mutter an einer Hand hätte abzählen können, aber das wäre gelogen. Nein, sie brauchte dazu wahrscheinlich einen Taschenrechner oder irgendeine Buchführungs-Software, um den Überblick zu behalten. Jawohl, so umfangreich und durchgeknallt war das. Ihre Mutter und Saul hatten Schluss gemacht. Es war lediglich überraschend, wie schnell es geendet hatte. Das war sogar für ihre Mutter ein Rekord.
Seufzend hielt sie das Handy von sich weg und sich selbst den Mund zu, damit sie nicht zu schreien anfing. Sie riss sich zusammen und erwiderte: „Am Michigansee.“
Amethyst hörte einen lauten, schrillen Freudenschrei am anderen Ende.
„Oh, das ist ja absolut perfekt. Wo bist du untergekommen? Ich bin morgen da. Wir können miteinander Zeit verbringen, nur wir Mädels unter uns. Arbeitest du an einer neuen Story? Ich bin sicher, die wird so toll wie alle anderen. Ich kann dir bei deinen Recherchen helfen. Das wird soooo ein Riesenspaß. Ich kann es kaum erwarten, bis ich bei dir bin, Schatz.“ Ihre Mutter plapperte weiter und gab Amethyst keine Chance, sie zu unterbrechen. Was sie sowieso nicht getan hätte. Sie hatte geistig abgeschaltet, sobald ihre Mutter sagte, dass sie herkommen würde.
Genau wie sie befürchtet hatte, wollte Mutter sie besuchen. Besser gesagt, sie zum Wahnsinn treiben. Es war völlig unmöglich, ihr diesen Besuch in North Point auszureden. Lyoness hatte bereits vor ihrem Anruf bei Amethyst Reisepläne geschmiedet. Lyoness Keane machte was sie wollte und wann immer sie wollte. Das einzige, was sie selber tun konnte war, zu grinsen und das Ganze zu ertragen. Bevor sie jedoch endgültig aufgab, versuchte Amethyst noch, ihre Mutter zu überreden, in Florida zu bleiben.
„Ich weiß nicht so recht, Mutter. Willst du dir wirklich die ganze Strecke zumuten? Es ist ziemlich weit weg vom Flughafen. Außerdem bist du in Miami. Da ist es doch wunderschön.“
„Ich habe Florida satt. Ich brauche mal etwas Anderes. Es ist Jahre her, seit ich in Michigan war. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich wieder hinfahre. Wie heißt die Pension, in der du wohnst?“
Ein vergeblicher Versuch, sie hatte es gleich gewusst. Also biss sie die Zähne zusammen, bevor sie etwas sagte, was sie bereuen würde. Ihre Mutter konnte ab und zu so fordernd wie eine Zweijährige sein. Wenn sich Lyoness Keane etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte allein der Vorschlag, etwas anders zu machen in einen lautstarken Streit ausarten. Daher gab ihr Amethyst widerstrebend den Namen der Pension: „Trenton-Hill Inn.“
Jetzt hatte sie alle Informationen, was ja der Grund ihres Anrufs gewesen war. Lyoness rief noch euphorisch: „Prima, Liebling. Bis morgen dann. Küsschen!“, bevor sie das Gespräch abbrach.
Amethyst starrte verblüfft ihr Handy an; ihre Mutter hatte einfach aufgelegt. Nach ein paar Minuten platzierte sie es wieder in den Beutel, drehte sich um und wanderte ziellos in Richtung Pension. Es sah so aus, als müsste sie die morgige Ankunft ihrer Mutter vorbereiten. Sollte sie Cooper warnen? Es wäre ein Grund für ein Gespräch mit ihm. Unsicher, ob das eine gute Idee war, entschloss sie sich dagegen. Andererseits sollte sie die Pension informieren, dass ein zweiter Gast in ihrem Zimmer übernachten würde. Auf keinen Fall würde Mutter ein eigenes Zimmer buchen. Wahrscheinlich war sie kurz davor, völlig abgebrannt zu sein und sie hatte keinerlei persönliche Rücklagen. Das war einer der Gründe, warum sie sich nach dem Ende einer Beziehung bei Amethyst meldete. Die Liebhaber ihrer Mutter bezahlten stets ihre Ausgaben, und wenn eine Beziehung zu Ende war, saß sie auf dem Trockenen.
Sie blickte auf und merkte, dass sie wieder vor der Pension stand. Amethyst ging hinein, seufzte und fand sich mit der Situation ab. Im Stillen bedankte sie sich beim Schicksal, dass sie eine geräumige Suite mit Ausziehsofa hatte. Als sie in der Pension stand merkte sie, dass Cooper nicht mehr am Empfang war. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren, violetten Augen und einem sonnigen Lächeln empfing sie. „Hallo, ich bin Olivia. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Amethyst brauchte eine Minute, um ihre Enttäuschung zu überwinden, dass nicht Cooper da war, um ihr zu helfen. Es war an sich egal, aber es half nichts, sie fand ihn anziehend. Sie freute sich auf ein weiteres Gespräch mit ihm.
„Oh, ich dachte, Cooper hätte Dienst.“
Olivia nickte und lächelte weiter. „Oh, er hat … oder besser, er hatte. Es war irgendetwas Dringendes mit seinem Vater, deswegen hat er mich angerufen, ob ich übernehme. Sind Sie ein Gast?“
„Oh, tut mir leid, ja. Ich bin Amethyst Keane in Zimmer dreizehn. Ich wollte ihm sagen, dass meine Mutter, Lyoness Keane, morgen kommt. Wenn ich bei ihrer Ankunft weg sein sollte, könnten Sie dann bitte dafür sorgen, dass sie einen Schlüssel zu meinem Zimmer bekommt?“
„Klar, kein Problem, ich klebe mir eine Notiz an unseren Computer. Brauchen Sie sonst noch etwas?“ Olivia notierte sich die Information auf einen gelben Zettel und klebte ihn an den Bildschirm.
Sie wollte wirklich wissen, was mit Cooper und seinem Vater los war, also platzte sie heraus: „Ist alles in Ordnung mit Coopers Vater? Tut mir leid, ich weiß, das ist wohl eine zu persönliche Frage.“ Sie sollte nicht in Coopers Angelegenheiten herumschnüffeln. „Ich bin halt von Natur aus neugierig, manchmal bricht das durch.“
Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, Herrn Marchant geht es bestimmt gut. Er hat sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt, als Coopers Mutter gestorben ist. Er lebt draußen bei Ghost Peak alleine in einem Haus. Ich denke mal, er sitzt auf seinem Dach fest und der Wind hat die Leiter umgeweht oder sowas ähnliches. Gott sei Dank war das Handy in seiner Tasche und er hat angerufen, damit Cooper ihm zu Hilfe kommt.“
Ghost Peak? Der Platz klang interessant, daher fragte Amethyst: „Das ist ja ein faszinierender Name. Warum Ghost Peak?“
„Es gibt ein Gerücht, dass dort Easton Hill Marianne Trenton um ihre Hand gebeten hat. Außer in der Pension, so die Sage, spukt er jedes Jahr dort herum und zwar an dem Tag, als er ihr den Antrag machte.“
Amethyst spürte, wie sie in Aufregung geriet. Sie hatte ein paar Gespenstergeschichten über das Dorf gehört. Das war einer der Gründe, warum sie es für ihren nächsten Reisebeitrag ausgesucht hatte. Sie hätte Olivia gerne genauer ausgefragt, aber sie hielt sich zurück. „Toll, wirklich? Glauben Sie, dass Herr Marchant einverstanden ist, wenn ich hingehe?“
Olivia nickte zustimmend. „Ich kann mir nicht denken, warum nicht. Er mag Gesellschaft, vor allem seit er die meiste Zeit alleine ist. Außer Cooper wohnen da nur er und sein Golden Retriever Molly. Wahrscheinlich ist er begeistert, wenn Sie ihn besuchen.“
Amethyst konnte ihre Aufregung kaum verbergen und ihre Fragen überstürzten sich. „Wunderbar. Glauben Sie, heute Nachmittag würde es passen? Soll ich ihn vorher anrufen? Könnten Sie mir eine Wegbeschreibung zu Ghost Peak geben?“
Olivia brach in lautes Gelächter aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, gehen Sie ruhig. Wahrscheinlich ist Cooper sowieso noch da. Einen Moment, ich gebe Ihnen eine Wegbeschreibung. Es ist eine längere Wanderung, aber die Aussicht ist atemberaubend und das allein ist es schon wert.“
Olivia vermerkte genauere Einzelheiten auf der Beschreibung. Der vorherige Spaziergang war nicht so verlaufen, wie Amethyst das geplant hatte, doch manchmal war es besser, keine Pläne zu machen. Mit Olivias Hilfe hatte sie einen Anhaltspunkt für ihre Story gefunden. Vielleicht könnte sie den Aufenthalt sogar abkürzen und wieder heimfahren. Mutter würde ihr sowieso nachfahren …
Sie würde sich dem Problem Mutter nach ihrer Ankunft widmen. Sie musste ja nicht jetzt schon in Stress verfallen. Es gab Wichtigeres zu untersuchen und auszukundschaften. Bald würde sie einen Vorgeschmack auf die Sage über Easton Hill erhalten. Sie konnte es kaum erwarten, den Ort zu sehen, wo er angeblich seiner Frau Marianne einen Heiratsantrag gemacht hatte.
Olivia nahm den Zettel und gab ihn Amethyst. „Bitte schön. Es war nett, Sie kennenzulernen, Amethyst. Viel Glück.“
Amethyst nickte Olivia zu und sagte: „Danke für all die Hilfe. Einen schönen Nachmittag noch.“
Dann drehte sie sich um und verließ die Pension. Es gab nichts, was ihren Enthusiasmus so zum Überschäumen brachte wie der erste Hinweis auf eine Story. In flottem Tempo wanderte sie den Pfad entlang, den Olivia auf der Beschreibung skizziert hatte. Bald schon würde sie alle Details zu dem Dorfgespenst zusammengetragen haben und auch die bewegte Vergangenheit kennenlernen, die für die Sage verantwortlich war.

KAPITEL VIER
Cooper hatte gerade die Leiter wieder verstaut, als er Amethyst entdeckte, die sich dem Haus näherte. Er hielt kurz inne und bewunderte, wie schön sie aussah, wenn der Wind in ihren Haaren spielte. Ihr Versuch, es zusammenzubinden, wurde durch den windigen Tag zunichtegemacht. Feine Strähnen wehten ihr ums Gesicht, als sie den langen Pfad entlangwanderte, der zur Veranda des Hauses führte. Was hatte sie zu seinem Haus geführt? Vielleicht war sie das Mädchen, das er eines Tages zu finden hoffte. Eines wusste er mit Sicherheit: Er war mehr als bereit, es herauszufinden. Cooper war innerlich davon überzeugt, dass Amethyst eine besondere Frau war.
Sie kam bei den Stufen an und klopfte an die Haustür. Sein Vater, Roman Marchant, öffnete und begrüßte sie. Vater ging es endlich wieder gut und vielleicht konnte er eine gewisse Zufriedenheit wiederfinden. Coopers Mutter hatte lange mit Leukämie gekämpft und den Kampf vor einem Jahr verloren. Der Verlust war für seinen Vater verheerend gewesen. Sein ehemals schwarzes Haar war jetzt von grauen Strähnen durchzogen und in seinen blauen Augen lag eine Traurigkeit, die vorher nicht dagewesen war. Es hatte ihn sehr viel Kraft gekostet, ohne seine geliebte Frau weiterzumachen. Es half, dass Vaters bester Freund Nicholas Drake den Sommer über im Dorf sein würde. Nach einem Arbeitsunfall hatte Nicholas einen Ort gesucht, wo er wieder zu Kräften kommen konnte und North Point war dafür so gut geeignet wie jeder andere Platz. Bald würde er ankommen.
Cooper betrat das Haus durch die Hintertür und. Er ging durch die Küche zur Vorderseite des Hauses und als er näherkam, konnte er seinen Vater hören. „Nein, es ist schon in Ordnung. Kommen Sie doch bitte herein. Wir haben hier draußen nicht viele Besucher, vor allem keine, die so hübsch sind wie Sie.“
Cooper nahm das als Stichwort und betrat das Zimmer. „Wer ist gekommen, Pa?“
Roman presste die Hand auf seine Brust und täuschte Erschrecken vor. „Cooper, du sollst dich nicht so an einen alten Mann anschleichen. Fast hätte ich einen Herzinfarkt gehabt.“
Cooper verdrehte die Augen und ignorierte den Versuch seines Vaters, witzig zu sein. „Ich bin sicher, dass du völlig in Ordnung bist, Pa.“ Er warf Amethyst einen kurzen Blick zu. „Außerdem bist du noch lange nicht alt.“ Amethyst trat von einem Fuß auf den anderen, während sie den Wortwechsel der beiden verfolgte. Cooper dachte, dass sie einfach bezaubernd aussah, wenn sie sich beim Zuhören auf die Lippen biss. „Hallo, Amethyst, was machst du denn hier?“
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. „Ich habe gehofft, dass ich mich auf Ghost Peak Island umsehen könnte. Ich, äh, wollte auch wissen, ob du mir genau sagen kannst, wie ich da hinfinde.“
Sein Vater mischte sich in das Gespräch ein, er sah verwirrt aus. „Ich habe nicht gewusst, dass ihr beiden euch kennt.“
Cooper sah seinen Vater an und erwiderte: „Amethyst wohnt in der Pension. Wir haben uns vorhin beim Einchecken kennengelernt.“
Roman strahlte Amethyst stolz an. „Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, meine Liebe. Trenton-Hill ist der beste Platz für einen Aufenthalt in Michigan.“
Cooper lachte über die Selbstgefälligkeit seines Vaters. „Er ist voreingenommen, weil die Pension seit Generationen unserer Familie gehört.“
Amethyst nickte zustimmend. „Ich nehme es ihm nicht übel. Ich wäre begeistert, wenn meine Familie auch so eine langjährige Geschichte hätte. Es ist wirklich eine wunderschöne Pension. Ich bin schon viel herumgereist, auch ein paar exotische Orte waren dabei, aber eure Pension gehört bisher zu meinen Lieblingsplätzen.“
Roman sah Amethyst verwundert an. „Sie sind noch sehr jung, um so viel gereist zu sein. In welchem Bereich ist Ihre Familie denn tätig?“
Amethyst hasste es, wenn Leute ihr Alter kommentierten. Es war doch unwichtig, wie lange sie schon auf der Welt war. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass in ihr für eine fast Zwanzigjährige eine alte Seele wohnte. „Naja, was mein Vater macht, weiß ich nicht … ich habe ihn nie kennengelernt. Meine Mutter ist eine Art Unternehmerin. Sie probiert ständig neue Ideen aus, aber es ist nie etwas Dauerhaftes.“
Roman nickte, als ob er das begriff, aber sein Blick sagte etwas anderes. „Aha, ich verstehe.“ Er blickte seinen Sohn an und fragte: „Cooper, willst du mit ihr eine Inselführung machen?“
Cooper nickte seinem Vater bejahend zu. Nichts würde ihn glücklicher machen, als Amethyst auf eine Inseltour mitzunehmen. Das war die beste Gelegenheit, die er sich wünschen konnte, besser hätte er es gar nicht organisieren können. Ben war auch nicht da, um dazwischenzufunken, wenn er mit Amethyst allein war. Bisher lag er ganz vorne in dem Wettkampf, den sein Freund angezettelt hatte.
Online hatte er einiges über sie erfahren. Sie hatte ihm nicht viele Informationen geliefert, aber bei der Zeitschrift ASK spielten ihre Artikel eine wichtige Rolle. Sie hatte außerdem die Leitartikel für fast alle Ausgaben geschrieben. Wenn er an ihre Anfangsbuchstaben dachte, kam er zu dem Schluss, dass die Zeitschrift vielleicht eine größere Rolle in ihrem Leben spielte, als sie ihn glauben ließ. Er würde sie ganz genau fragen, wie ihre Stellung dort aussah und ob die Zeitschrift später nach ihr benannt worden war.
In der Zwischenzeit würde Cooper die Zeit nutzen, um ihr über die örtliche Legende des Dorfes zu erzählen. Cooper und Roman waren zufällig die einheimischen Experten. Alle kannten die Geschichten, aber nur die Marchant-Familie besaß alle Tagebücher von Marianne. Sie befanden sich unter den vielen Dingen, die sie in der Pension zurückließ, als sie aus North Point verschwand.
„Wenn du mitkommst, kann ich dir alles zeigen. Es gibt hier viele interessante Attraktionen.“
Amethyst trat mit begeistertem Blick auf Cooper zu. „Ich kann es kaum erwarten. Ich bin sofort bereit!“
Der Nachmittag versprach, der beste seines Lebens zu werden. Er lächelte ihr zu und winkte ihr, ihm zu folgen. Sie schlenderten den Pfad hinunter, der zur Rückseite des Hauses und bis zum Rand einer steilen Klippe führte. Die Wellen des Sees schlugen gegen eine Seite der Felsformation unter ihnen. Wenn man über den See blickte, sah man in geringer Entfernung vor den Felsen unter ihnen eine winzige Insel mit einer kleinen steinigen Spitze in grauschwarz und weiß. Von ihrem Standpunkt aus schien es, als könnte man sie mit ausgestrecktem Arm berühren.
Cooper tippte ihr auf die Schulter und zeigte auf die kleine Insel. „Das ist Ghost Peak. Es ist kein richtiger Berg und wir tun gerne so, als ob er uns allein gehört. Das Wasser hatte über die Jahre hinweg eine eigenartige Auswirkung und diese Insel mit dem winzigen Berg geformt. Die Formation selbst war immer schon da – jedenfalls schon lange bevor das Dorf zu dem wurde, was es heute ist. Die Insel wurde erst nach dem Tod von Easton Hill Ghost Peak Island genannt.“
Amethyst wandte sich vom See ab und sah ihn an. „Warum hat man sie so genannt? Warum hat das etwas mit Easton Hills Tod zu tun?“ Sie legte den Kopf zur Seite und starrte auf Ghost Peak.
Cooper verbarg ein Lächeln. Jetzt konnte er ihr alles erzählen, wozu er Lust hatte. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit und das würde er sich nicht entgehen lassen.
„Die Legende besagt, dass Easton Hill mit Marianne Trenton im Boot zu einem Picknick zur Insel ruderte. Dort machte er ihr einen Antrag und kurz darauf heirateten sie. Die Insel wurde zu einem ihrer romantischen Lieblingsplätze. Das ist auch bei den Einheimischen so geblieben. Viele von uns verbringen bei Gelegenheit gerne Zeit auf der Insel.“
Amethyst schüttelte den Kopf, als sie sagte: „Aber dann sollte sie Love Peak heißen, nicht Ghost Peak. Das passt doch nicht. Er hat ihr dort einen Heiratsantrag gemacht? Warum sollte es dann auf der Insel spuken?“
Sie war so liebenswert, dass er sie gerne umarmt hätte. „Ja, so sollte sie heißen, tut sie aber nicht.“
Amethyst neigte den Kopf zur Seite, als ob sie über den Sinn nachgrübelte. „Ich verstehe es nicht. Erkläre mir das bitte.”
„Eine einfache Erklärung ist, dass er dort nach seiner Frau sucht. Er hat sie verloren oder sie ihn, je nachdem, wie man es sieht. Also sucht er die Insel einmal im Jahr heim und hofft, dass er sie findet. Bisher hat er nicht viel Glück gehabt, der arme Kerl.“ Das war wirklich eine düstere Geschichte …
„Das ist unglaublich traurig. An welchem Tag im Jahr kommt er auf die kleine Insel?“ Sie knabberte an ihrer Unterlippe. Er wünschte sich, dass er näher wäre und sie küssen könnte. Sie hatte einen reizenden Mund und das Knabbern machte ihre Lippen noch voller.
Cooper zuckte mit den Achseln und meinte: „Ich bin mir nicht sicher. Es ist von unterschiedlichen Tagen die Rede. Ich könnte dir sagen, wann sie geheiratet haben und raten … aber nicht mal in Mariannes Tagebuch steht, wann genau sie auf die Insel gerudert sind. Sie haben am 1. April 1953 geheiratet.
„Am 1. April? Das ist interessant … “ Sie unterbrach sich und sah zu ihm auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie sagte: „Warte mal, hast du ein paar ihrer Tagebücher? Kann ich sie lesen?“ Ihre Stimme wurde ganz aufgeregt, ihr Blick war beinahe flehend.
Es war wirklich einfach gewesen, sie auf die Spur zu führen, wo er sie haben wollte. Sie merkte nicht einmal, dass er sie manipuliert hatte. Alles lief ganz wunderbar und bald würde er herausfinden, ob sie wirklich eine so besondere Frau war, wie er annahm. Je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, umso mehr stieg seine Chance, ihr näherzukommen.“ „Ich weiß nicht. Das sind sozusagen Familienerbstücke und über ein halbes Jahrhundert alt.“
„Oh, ich verspreche, dass ich ganz vorsichtig damit umgehen werde. Wenn ich sie lesen darf, meine ich.“ Ihre Stimme war voller Eifer, als sie sprach.
Er tat so, als wäre die Erlaubnis dafür eine schwere Entscheidung. „Naja, die Sache ist die, ich kenne dich nicht besonders gut. Wie kann ich sicher sein, dass du dich nicht mit ihnen aus dem Staub machst?“
Sie legte wieder den Kopf schief, als ob sie überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. „Na, wenn es dir lieber ist, könntest du ja dabeibleiben, während ich sie durchlese. Dann siehst du, dass ich nichts kaputtmache, was mir nicht gehört.“
Ja, wunderbar. Er musste es nicht einmal vorschlagen. Sie machte es wirklich etwas zu einfach für ihn. Nicht, dass er sich deswegen beschwert hätte. „Hm … naja, ich denke, das wäre in Ordnung. Warum interessieren dich Marianne und Easton denn überhaupt?“
„Ich schreibe … “ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich denke mal, das weißt du schon. Ich habe es ja schon gesagt, als wir uns getroffen haben.“ Amethyst seufzte. „Mir gefällt es einfach, interessante Sachen über Plätze zu entdecken, die ich besuche. Ich gebe zu, dass ich mir Orte aussuche, die mich von Anfang an faszinieren und dann hoffe ich darauf, die Geschichte einer Stadt aufzudröseln und in meinen Artikeln zu verwenden. Ich bin über mögliche Gespenster in diesem Dorf gestolpert und dachte, das wäre ein wunderbarer Beitrag. Ich schreibe gerne die Wahrheit und keine Artikel, in denen über Gespenster nur spekuliert wird. Hilfst du mir dabei?“
„Das könnte ich vielleicht machen. Hast du schon etwas geschrieben? Zeigst du es mir?“
„Ich weiß nicht so recht – ich mag es eigentlich nicht, jemanden etwas lesen zu lassen, bevor ich nicht fertig bin. Vielleicht kann ich dir eine Kopie schicken, wenn der Text steht?“
Ja, das war eine gute Idee. Damit hätte sie einen Grund, mit ihm in Kontakt zu bleiben, wenn sie die Stadt verlassen hatte. Er hoffte, er könnte eine Beziehung aufbauen und sie würde bleiben, aber im Fall, dass es nicht so lief wie gewünscht, brauchte er einen Ersatzplan. „Das wäre fantastisch. Ich freue mich schon darauf, deine Story zu lesen.”
Ein strahlendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Prima, dann sorge ich dafür, dass du sie bekommst. Lässt du mich jetzt diese Tagebücher anschauen?“
„Ich denke, das lässt sich machen. Komm mit zurück zum Haus. Ich muss meinem Vater sagen, dass wir in die Pension gehen.“
Amethyst hüpfte fast neben ihm her, als sie zum Haus wanderten. „Vielen Dank, dass ich sie sehen darf. Das ist mehr, als ich je zu finden gehofft habe.“
Er selber hoffte, dass die Tagebücher all ihren Erwartungen entsprachen. Seine eigenen hatten sich mit diesem wunderschönen Mädchen bereits erfüllt. Sie besaß alle Qualitäten, die Cooper bei einer Frau suchte. Er musste die Angelegenheit jetzt nur richtig angehen, damit sie seine Gefühle erwiderte.

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