Читать онлайн книгу «Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)» автора L. G. Castillo

Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)
L. G. Castillo
Nachdem Naomi endlich wieder mit der Liebe ihres Lebens vereint ist, glaubt sie, ihr stünden ewige Liebe und endloses Glück bevor. Aber bald wird ihr klar, dass das Leben als Erzengel nicht leicht ist - selbst mit dem rebellischen Lash an ihrer Seite. Als endlich Geheimnisse um die Vergangenheit gelüftet werden, wendet sich die Stimmung und ein Bruder steht dem anderen feindlich gegenüber. Naomi und Lash müssen sich der größten Gefahr für ihre Beziehung stellen: der Wahl zwischen Liebe, Familie oder Pflichterfüllung. Letztendlich stellt sich die Frage: Kann diese Familie gefallener Engel vergangene Fehler vergeben oder werden sie für immer den Dorn in ihren Herzen tragen, der ihre Familie zerreißt?


Nach dem Fall
“Nach dem Fall (Gefallener Engel 2)”
Copyright © der Originalausgabe 2013 by L.G. Castillo.
Copyright © der deutschsprachigen 2019 by L.G. Castillo.
Alle Rechte vorbehalten.

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Gefallener Engel
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Inhalt
Kapitel 1 (#u5fdc69dc-3043-543c-bce0-11f805e7826b)
Kapitel 2 (#uec351ba3-8297-58c2-bb5d-1f3fa0cada76)
Kapitel 3 (#u5b61dfcc-b9c7-5074-baee-79b2ab7df0b8)
Kapitel 4 (#ub716a20d-6eee-5a78-a85e-de4651335a9e)
Kapitel 5 (#u8616dd64-589a-55a8-930d-b445f7cba83e)
Kapitel 6 (#litres_trial_promo)
Kapitel 7 (#litres_trial_promo)
Kapitel 8 (#litres_trial_promo)
Kapitel 9 (#litres_trial_promo)
Kapitel 10 (#litres_trial_promo)
Kapitel 11 (#litres_trial_promo)
Kapitel 12 (#litres_trial_promo)
Kapitel 13 (#litres_trial_promo)
Kapitel 14 (#litres_trial_promo)
Kapitel 15 (#litres_trial_promo)
Kapitel 16 (#litres_trial_promo)
Kapitel 17 (#litres_trial_promo)
Kapitel 18 (#litres_trial_promo)
Kapitel 19 (#litres_trial_promo)
Kapitel 20 (#litres_trial_promo)
Kapitel 21 (#litres_trial_promo)
Kapitel 22 (#litres_trial_promo)
Kapitel 23 (#litres_trial_promo)
Kapitel 24 (#litres_trial_promo)
Epilog (#litres_trial_promo)
Vor dem Fall (Gefallener Engel #3) (#litres_trial_promo)

1
Ihr Mantel bauschte sich flatternd hinter ihr, als Rachel durch den dunklen Tunnel eilte. Er war hier. Sie konnte ihn spüren.
Schaudernd tasteten ihre Finger nach dem schweren Stoff, um ihn enger um ihren Körper zu ziehen. Weiße Wölkchen stiegen aus ihrem Mund auf, als sie keuchend versuchte zu Atem zu kommen. Mit jedem Schritt, den sie tat, war es, als würden ihre Engelskräfte mehr und mehr aus ihr herausgesogen. Sie hielt an und ließ sich gegen die feuchte Höhlenwand sinken. Sie konnte keinen Schritt weitergehen. War sie dem hier gewachsen? Selbst wenn sie es schaffte, zu ihm zu gelangen – würde sie noch genug Kraft haben, um ihn zu retten?
Gabrielle hatte sie gewarnt, dass es sich so anfühlen würde, aber Rachel hatte das als Übertreibung abgetan, besonders anfangs, als sie die Hölle betreten hatte. Es hatte genauso ausgesehen wie zuhause! Saftiges Gras und duftende Blumen bedeckten die Landschaft, so weit das Auge reichte.
Schneebedeckte Berge erhoben sich im Hintergrund vor einem klaren blauen Himmel – selbst der Bach befand sich an genau derselben Stelle wie im Himmel. Wäre da nicht das ungute Gefühl in ihrer Magengegend gewesen und die Härchen, die sich ihr im Nacken aufrichteten, hätte sie schwören können, sie sei zuhause.
Wenn man bedachte, dass Luzifer seine Gefangenen am Feuersee festhielt, hätte sie eigentlich erwartet, dass es sich bei der Hölle um ein weites, ödes Land voll drückender Hitze handelte. Erst als sie auf die Höhle. die hinter einem Wasserfall versteckt lag, gestoßen war, hatte sie verstanden, was Gabrielle gemeint hatte, als sie sagte, sie solle sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. In der Höhle war es eisig. Die schneidend kalte Luft schien durch ihre Poren bis tief in ihre Knochen vorzudringen und ließ ihre Zähne unkontrolliert klappern.
Sie wünschte, Gabrielle hätte ihr nähere Informationen zu dem gegeben, was sie erwartete. Sie hätte sich wärmer angezogen. Gabrielle war nur einmal hierher gekommen, und sie hatte an der äußeren Grenze der Höhle gewartet. Ihrer Ansicht nach war ein einziges Mal genug gewesen. Sie hatte Tage gebraucht, um sich von der Erfahrung zu erholen.
Nur Raphael wusste, wie es in der Hölle wirklich war. Er hatte Gabrielle angewiesen, auf ihn zu warten, während er mutig die finstersten Tiefen der Höhle durchquert hatte, um zum See zu gelangen. Er war der Einzige, von dem sie wusste, dass er hinabgestiegen und zurückgekommen war – lebend.
Wenn sie Raphael nur hätte fragen können, was sie zu erwarten hatte und wie sie sich darauf vorbereiten konnte. Sie seufzte. Wenn sie das getan hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, unbemerkt zu entwischen. Man hätte sie Michael gemeldet und sie hätte höchstwahrscheinlich Wachschichten schieben müssen, bis es zu spät gewesen wäre.
Beim Gedanken daran, dass er sterben oder schon tot sein könnte entrang sich ihrer Kehle ein Schluchzen. Sie schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund, als das Geräusch in der Dunkelheit von den Wänden widerhallte. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie mit dem Gedanken daran kämpfte, dass sie ihn verlieren konnte. Sie musste sich zusammenreißen. Wenn man sie erwischte, wäre das für sie beide das Ende.
Entschlossen holte sie Luft und stieß sich von der Wand ab. Ich kann das schaffen. Ich werde ihn nicht verlieren.
Ihre Füße schlurften über den Boden der Höhle als sie mühsam in der Dunkelheit voranstapfte. Als sie um eine Biegung trat, öffneten sich vor ihr zwei Gänge.
Wo lang soll ich gehen? Ihre Augen tränten und sie biss sich verzweifelt auf die Unterlippe. Sie war müde. So müde. Wenn sie den falschen Gang wählte, wusste sie nicht, ob sie noch in der Lage wäre, es durch den zweiten zu schaffen. Die Zeit wurde knapp. Sie musste sich entscheiden, sofort!
Sie wollte gerade in den Tunnel zu ihrer Linken einbiegen, als sie von rechts ein Stöhnen hörte.
Das war er!
Mit frischen Kräften eilte sie auf das Geräusch zu und erreichte innerhalb weniger Minuten eine große Höhle. Hitze prallte auf ihren Körper. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht bei dem plötzlichen Temperaturwechsel. Ruckartig hielt sie an und ruderte mit den Armen, während sie versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden und nicht in die geschmolzene Lava zu stürzen, die sich plötzlich vor ihr befand und ihr die Zehen zu versengen drohte.
Der See!
Sengende Hitze ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Sie rieb sich die Augen. Alles, was sie wahrnehmen konnte, war ein Meer aus rotglühender Hitze. Wo ist er?
Ihre Augen durchsuchten den Dunst und schließlich entdeckte sie kaum wahrnehmbar einen bewegungslosen Umriss. Sie blinzelte erneut. Als sich ihre Sicht langsam klarte, verschlug es ihr den Atem.
Nein! Das konnte er nicht sein.
Auf der anderen Seite des Sees an die Wand gekettet befand sich die einzige Person in ihrem Leben, ohne die sie nicht sein konnte. Die einzige Person, für die sie die Befehle der ranghöchsten Erzengel missachtete, nur damit sie ihn retten konnte.
Uriel.
Tränen rannen ihr über die heißen Wangen, als ihre Augen über seinen einst atemberaubenden Körper fuhren, der von der Lava verbrannt war, die auf seine Haut gespritzt war. Seine wunderschönen daunenweißen Flügel hatten jetzt ein unheimliches Schwarz angenommen. Bei jeder Bewegung, die er machte, verbrannten Federn zu Asche und wehten leblos zu Boden.
»Uriel«, krächzte sie.
Uriel hob den Kopf und schmerzerfüllte Augen erwiderten ihren Blick, ein erschreckendes Blau in der Schwärze seines verbrannten Gesichts. »Nein«, stöhnte er. »Geh. Geh jetzt. Er wird jeden Moment hier sein – «
Ein Poltern erklang in der Höhle und Lava schoss in die Luft. Spritzer der glühenden Flüssigkeit fielen auf seine Brust. Er bog den Rücken durch und schrie.
»Ich komme, Uriel!« Sie riss ihren Umhang herunter und breitete ihre Schwingen aus.
»Für mich ist es zu spät«, krächzte er. »Tu das nicht.«
»Nein, das ist es nicht. Es ist mir egal, was die anderen sagen. Du hast deine Schuld abgegolten. Du verdienst eine zweite Chance.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Vergib mir. Ich habe dich nicht verdient.«
»Da gibt es nichts zu vergeben. Ich liebe dich.«
In der verzweifelten Hoffnung einen Weg zu finden, um zu ihm zu gelangen, blickte sich Rachel in der Höhle um. Sie schluckte schwer und flatterte mit den Flügeln. Mit der ganzen Kraft, die sie aufbringen konnte, wirbelte sie in die Luft. Sie schaffte es gerade mal, sich wenige Fuß über den Boden zu erheben. Es war, als drückte eine unsichtbare Barriere sie nach unten. Panisch sah sie sich nach einem anderen Weg um, auf dem sie zu ihm gelangen konnte, und entdeckte einen schmalen Steinpfad, der von Lava überspült wurde. Einen anderen Weg zu ihm gab es nicht.
Mit ihrer ganzen Kraft zwang sie sich in die Höhe und versuchte, Abstand zwischen sich und die feurige Flüssigkeit zu bringen. Die Höhle erbebte erneut und eine Woge aus Lava schlug gegen die Wände. Lavatropfen stoben in die Höhe und auf ihre Flügel.
Sie schrie vor Schmerz auf und begann zu fallen.
»Nein, Rachel!«, stöhnte Uriel. »Dreh um.«
Bevor Rachel ihm antworten konnte, dass sie ihn auf keinen Fall zurücklassen würde, fühlte sie einen Lufthauch an ihrem Rücken. Ein Arm schlang sich eng um ihre Taille und riss sie vom See zurück, weg von Uriel.
»Nimm sie mit… Gabrielle«, keuchte Uriel. »Bring sie... in Sicherheit.«
»Darauf hast du mein Wort«, antwortete Gabrielle und verstärkte ihren Griff um Rachel.
»Nein!«, kreischte Rachel und wand sich in Gabrielles stahlharten Armen. »Lass mich los! Lass. Mich. Los!«
Rachel streckte ihre Arme aus, als ob sie sich so an ihm festhalten könnte. »Uriel! Uriel!«
In dem Moment, als Gabrielle aus der Höhle flog, erschütterte ein lauter Donnerschlag die Höhle und der Klang seiner Schreie durchfuhr sie und mischte sich mit ihren eigenen.
Dann – Stille.
Er war fort.
Kraftlos sank sie in Gabrielles Armen zusammen, als sie durch den eiskalten Tunnel zurückflogen. Die Kälte breitete sich auf ihrem Gesicht aus, auf ihren Händen. Dann kroch sie in ihr Herz und den tiefsten Teil ihrer Seele, bis nichts mehr übrig war als dunkle Taubheit. Es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig.
Als sie aus dem Wasserfall heraus ins Sonnenlicht flogen, starrte sie gleichgültig die Wolken an, die über ihnen dahinzogen. Und obwohl ihr die Sonne ins Gesicht schien, konnte sie die Wärme nicht spüren. Sie bezweifelte, dass sie sie jemals wieder fühlen würde. Die kalte Leere in ihrem Herzen würde dort für immer herrschen, denn Uriel war tot.


»Moment mal! Uri war tot? Du meinst so tot, dass er nicht mehr existiert hat?« Naomi starrte Rachel an und warf dann einen Blick auf Uri. Sein Grübchen vertiefte sich, als er grinste. »Aber du bist… du bist hier.«
Rachels Blick verlor sich in der Ferne und ihr Gesicht nahm einen so traurigen Ausdruck an, als befände sie sich noch in der Höhle.
»Rachel? Geht’s dir gut?« Naomi rüttelte an ihrer Schulter und runzelte besorgt die Stirn. Sie war es nicht gewohnt, ihre Freundin so traurig zu sehen. Von all den Engeln, die sie während ihrer kurzen Zeit im Himmel kennengelernt hatte, war Rachel die Fröhlichste und hatte immer Engel-Tratsch zu teilen. Sie wünschte, sie hätte Rachel nicht danach gefragt, wie sie und Uri sich begegnet waren. Naomi hatte keine Ahnung von ihrer tragischen Vergangenheit gehabt oder davon, dass Rachel und Uri jemals von einander getrennt gewesen waren. Uri, der seinen Namen Uriel verkürzt hatte, war immer an Rachels Seite.
Als Naomi Uri zum ersten Mal begegnet war, hatte die Art und Weise wie er ihr zuzwinkerte und sich über sie lustig machte, sie abgeschreckt. Und er war jemand, der gern Umarmungen austeilte, genau wie Rachel. Sie hatte erwartet, dass Lash eifersüchtig darauf sein würde, wie Uri mit ihr flirtete. Aber dann war ihr aufgefallen, dass er sich allen gegenüber so verhielt, sogar gegenüber Gabrielle.
Im Himmel herrschte kein Mangel an umwerfend gutaussehenden Engeln. Obwohl Lashs dunkler, schweigsamer Typ mehr ihr Fall war, musste sie zugeben, dass Uri attraktiv war. Sein dunkelblondes Haar trug er kurz mit einem langen Pony, der ihm in die Stirn fiel und spöttische blaue Augen hervorhob. Das Bestaussehende an ihm waren seine vollen Lippen, die ständig leicht vorgeschoben zu sein schienen. Viele der weiblichen Engel begannen jedes Mal zu sabbern, wenn Uri ihnen zum Gruß die Hand küsste oder schmolzen dahin, wenn er sie anlächelte. Und wenn Uri sie wirklich in den Wahnsinn treiben wollte, legte er für gewöhnlich seinen schweren russischen Akzent auf.
Trotz all der Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, war es offensichtlich, dass sein Herz Rachel gehörte. Jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, leuchtete sein Gesicht auf und wurde noch atemberaubender. Es war, als käme all die Energie, die er verströmte, von ihr.
Rachel blinzelte ein paarmal und schüttelte den Kopf, als ob sie mühsam wieder in die Gegenwart zurückfinden müsste. »Oh, sorry. Ich habe mich kurz in Erinnerungen verloren. Was hast du gesagt?«
»Ah, mein Schatz, lass mich Naomi meine wundersame Auferstehung erklären«, wandte sich Uri an Rachel.
Er lehnte sich über den Tisch und ergriff Naomis Hand. Er hielt kurz inne und warf dann Lash einen Blick zu. »Darf ich?«
Lash nickte und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »So lange du nicht ganz so viel von deinem Charme spielen lässt.«
Naomi verdrehte die Augen. »Er hält einfach nur meine Hand. Wieso hältst du meine Hand, Uri?«
»Sag mir, meine liebreizende Naomi - was fühlst du?« Uri zwinkerte Rachel zu.
Naomi blinzelte verwirrt. »Ich...na ja… ich fühle deine Hand.«
»Ja, du fühlst Uris Hand«, bestätigte er und rollte das »R«, als er sprach. »Aber wer ist Uri?«
»Was?« Sie sah kurz zu Lash hinüber und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er zuckte mit den Schultern.
»Ist das hier Uri, in Fleisch und Blut?« Er strich mit ihrer Hand seinen muskulösen Arm hinauf. »Oder ist das hier Uri?« Damit legte er ihre Hand auf seine wie gemeißelte Brust.
Lash fuhr von seinem Platz hoch. »Hey, jetzt pass bloß auf.«
»Schhhh.« Naomi winkte ab. »Ich glaube, ich fange an zu begreifen.«
»Sieht für mich aus, als ob du Uri befummelst«, murmelte er.
Rachel kicherte und nahm die Karten von der Mitte des Tischs. »Naomi hat recht. Du bist niedlich, wenn du eifersüchtig bist.«
»Ich bin nicht… ach, jetzt gib die Karten schon her.« Er schnappte sich das Kartenspiel von ihr.
Naomi konnte fühlen, wie Lash schmollte, während er die Karten mischte. Sie wollte seine Bedenken zerstreuen, aber andererseits stand sie kurz davor, herauszubekommen, was Uri ihr zu erklären versuchte. Es wollte sich ihr ins Bewusstsein drängen.
»Willst du damit sagen, dass sich nur dein Körper verändert hat?«
Uri grinste. »Sehr gut. Das hier – «, er schlug ihre Hand sanft gegen seine Brust, »ist ein neuer und verbesserter Uri. Gefällt’s dir?« Er zwinkerte ihr zu.
»Ja.«
Er strahlte und sie hörte ein ersticktes Kichern von Rachel.
Naomi fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, als sie ihre Hand von seinem Oberkörper wegzog. »Ich meine… du bist ein… ein guter Freund«, stammelte sie.
Sie holte tief Luft und versuchte, das Gespräch wieder aufs Thema zu lenken. »Also, was du sagen willst, ist, dass dein wahres Ich, deine Seele, nicht gestorben ist. Es hat immer noch gelebt.«
»Sie ist schnell von Begriff, was?«, sagte Uri zu Lash.
Der grunzte.
»Ich werte das mal als ein ›Ja‹.« Naomi wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu, das sie spielten. Sie wischte die Pintobohnen von der Bingokarte und suchte nach einer anderen. Ihre momentane musste verhext sein. Sie hatte den gesamten Abend über nicht eine einzige Runde gewonnen.
Vor einigen Wochen hatte sie Uri und Rachel mexikanisches Bingo beigebracht in der Hoffnung, sich in ihrer Freizeit vom Training ein bisschen zu amüsieren. Es gefiel Rachel so gut – wahrscheinlich, weil sie fast immer gewann – dass sie und Uri jeden Abend zum Spielen vorbeikamen.
»Ich lerne jeden Tag was Neues dazu«, sagte Naomi. »Ich wusste nicht, dass Engel sterben können – oder zumindest ihre Körper. Es muss eine Erleichterung gewesen sein zu wissen, dass Uri zurückkommen würde.«
Es wurde still im Raum.
»Nicht jeder kommt zurück«, sagte Rachel leise. Ihr gewohntes Lächeln verschwand.
»Oh, aber ich bin zurückgekommen.« Uri erhob sich vom Tisch, hob Rachel von ihrem Stuhl und setzte sie auf seinen Schoß. »Es hat viele Jahre gedauert, aber ich bin zu dir zurückgekehrt, mein Schatz.«
»Dreitausenddreihundertsechsundachtzig Jahre, fünf Monate, zwei Tage, zwölf Stunden, achtundvierzig Minuten und dreiundzwanzig Sekunden«, flüsterte Rachel.
Naomi hatte es die Sprache verschlagen. So lange war er weg gewesen? Alles verkrampfte sich in ihrem Innern, als Uri sanft eine Träne von Rachels Wange strich. Wenn Engel sterben konnten, dann konnte Lash es auch, und es gab keine Garantie dafür, dass er auferstehen würde. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, es gäbe nichts, was sie auseinanderreißen konnte. Sie hatte geglaubt, sie hätte die Ewigkeit mit ihm.
»Wann bist du gestorben?«, fragte sie.
»1400 vor Christus. Meine Rückkehr war erst… hmm, lass mich mal nachdenken, 1967 oder so, als ich in einen menschlichen Körper geboren wurde. Gar nicht so anders als damals, als du in deinen menschlichen Körper geboren wurdest.«
»Nur, dass er in Tschernobyl war und nicht in Texas.« Rachel stieß Uri einen Finger in die Rippen. »Ich habe ihn endlich wiedergesehen, als er neunzehn wurde.«
»Tschernobyl in den 80ern«, seufzte Lash. »Daran kann ich mich erinnern.«
»Yeah, ich mich auch«, erklärte Rachel. »Ich bin in meinem ganzen Leben nie so glücklich und so frustriert gewesen. Glaub mir, Lash, ich verstehe, was du durchgemacht hast, als du Naomi zugeteilt wurdest.«
»Uri kam als Mensch wieder?« Naomi drehte sich zu ihm um. »Du wusstest gar nicht, dass du vorher ein Engel warst?«
»Nope. Rachel musste ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht… äh, wie soll ich sagen… der Moralischtste aller Menschen gewesen.« Uri zwinkerte ihr zu. »Natürlich hat Rachel für mich alles verändert und wir waren endlich wieder zusammen.«
»Aber dreitausend Jahre. Ich könnte nie...« Sie sah zu Lash hinüber und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. »Ich kann mir das nicht einmal vorstellen.«
»Hey.« Lash lehnte sich herüber und küsste sie auf die Wange. »Es ist alles in Ordnung. Ich bin hier.«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken und ihre Angst vor einem Leben ohne ihn spüren. Wie hatte Rachel das geschafft? All jene Jahre ohne Uri, mit ansehen müssen, wie er auf diese Weise starb, ohne zu wissen, ob er jemals wiederkehren würde.
»Wieso hast du mir das nie erzählt?«
»Es hat sich nicht ergeben.« Er nahm ihr die Bingokarten aus der Hand und umfasste ihre Hände. »Du musst dir um nichts Sorgen machen. Uris Fall ist ausgesprochen ungewöhnlich. Nimm’s mir nicht übel, Uri.«
»Natürlich nicht, mein Freund«, entgegnete Uri. »Naomi, Lash ist nicht der aufsässigste Engel hier, auch wenn er gern so tut, als wäre er es.« Er grinste und seine Grübchen kamen zum Vorschein. »Es gibt viel schlimmere Dinge, die man tun kann, als Wutanfälle zu bekommen und Aufträge zu vermasseln.«
Lash warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich würde sie nicht als Wutanfälle bezeichnen.«
»Was hast du angestellt?« Naomi konnte sich nicht vorstellen, dass Uri etwas so Schlimmes getan hatte, dass seine Strafe der Tod in der Hölle gewesen war. Dafür schien er nicht der Typ zu sein. »Ich wusste nicht, dass Engel so bestraft werden können.«
»Es waren nicht die Erzengel, die ihn bestraft haben.« Rachel blickte auf Uris Bingokarte herab, runzelte die Stirn, und griff über den Tisch, um eine andere aufzunehmen. »Das würden sie nie tun.«
»Also ich kann mir vorstellen, dass Gabrielle sowas in der Art anordnet«, warf Lash ein.
»Lash«, sagte Naomi warnend. Gabrielle war immer noch ein wunder Punkt für ihn. Rachel hatte ihr erzählt, dass Gabrielle und Lash nicht gut miteinander auskamen. Als Gabrielle ihr als Tutorin zugeteilt worden war, hatte sie deshalb gedacht, dass es schwierig sein würde, mit Gabrielle zusammenzuarbeiten. Stattdessen war sie Naomi gegenüber sehr geduldig gewesen und hatte ihr sogar Extrazeit gegeben, um Teile ihres Trainings abzuschließen. Ihr war aufgefallen, dass Gabrielle sich sehr geschäftsmäßig verhielt und keinem der Engel je auf persönlicher Ebene begegnete. Naomi konnte das verstehen. Es musste schwer für sie sein, nach Michael den zweithöchsten Rang in der Befehlskette einzunehmen. Sie war ihm noch nicht begegnet, aber jeder sprach mit großer Ehrfurcht von ihm, auch Lash. Die einzige Gelegenheit, bei der Gabrielle sich zu entspannen schien, war, wenn sie mit Raphael zusammen war. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können Gabrielle sei in ihn verliebt.
»Was?« Lash sah sie unschuldig an. »Es stimmt doch. Wenn es um mich ginge, würde sie es sofort tun.«
»Gabrielle kann manchmal ein bisschen… steif sein, aber sie meint es gut.« In Rachels großen braunen Augen schimmerten Tränen, als ihr Blick sich in der Ferne verlor. Anscheinend erinnerte sie sich an etwas. »Sie hat ihr Leben riskiert, als sie mir gefolgt ist und sie hätte mir nicht sagen müssen, wie man zum Feuersee kommt.«
»Na klar.« Lash sah sie einen Moment lang skeptisch an, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Uri zu. »Also, was hast du angestellt?«
»Weißt du das nicht?«, fragte Naomi überrascht. Sie hatte angenommen, dass Rachel und Lash mittlerweile darüber gesprochen hatten, weil sie so gut befreundet waren.
»Lash weiß, dass ich umgekommen bin und dann zurückgebracht worden bin. Ich habe nur niemandem erzählt, wieso«, erklärte Uri und schien verwirrt. Er warf Rachel einen nervösen Blick zu, bevor er fortfuhr. »Versteht ihr, ich war damals ganz anders. 1400 v. Chr. bin ich zur Stadt Ai unterwegs gewesen mit Raphael und Luzi– «
»Ach, das langweilige Zeug interessiert sie doch nicht.« Rachel sprang von seinem Schoß. Sie stöberte in dem Stapel Bingokarten in der Mitte des Tisches und sah sich jede genau an. Sie vermied jeden Blickkontakt, während sie sprach. »Uri wurde von Luzifer und Saleos gefangen gehalten. Und wegen… ähm… besonderer Umstände entschieden die Erzengel ihn… na ja…« - sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und schluckte - »sterben zu lassen.«
»Das ist grausam.« Naomi konnte sich nicht vorstellen, was er getan hatte, das so schlimm sein konnte, dass Rachel und er es verdient hatten, so zu leiden. Sie sah Rachel aufmerksam an, die sich unter ihrem prüfenden Blick wand. Da gab es etwas, das sie ihr nicht erzählte. Neben Lash war Rachel eine ihrer engsten Freundinnen geworden, wie eine Schwester, mit der sie alles teilte – bis jetzt.
»Die Stadt Ai«, sagte Lash. »Das klingt vertraut. Wo hab ich schon mal davon gehört?«
Rachels gezwungenes, hohes Kichern überraschte Naomi. »Sieh dir nur diese Karte an, Naomi. La Muerte.« Sie las es und reichte ihr dann die Karte mit dem Bild eines Skeletts, das eine Sense hielt. »Es sieht überhaupt nicht aus wie Jeremy. Seine neuen Krokodilstiefel sind nicht drauf. Nicht wahr, Uri?«
Uri runzelte verwirrt die Stirn. Dann, als er Rachels Wink mit dem Zaunpfahl allmählich begriff, sagte er: »Richtig, seine Krokodilstiefel – sehr nett.«
Naomi sah, wie Lash sich versteifte und bei der Erwähnung von Jeremys Namen mitten im Mischen innehielt. Jeremy war einen Tag, nachdem sie mit Lash wieder vereint gewesen war, verschwunden. Sie hatte von dem Kampf gehört, den Lash mit ihm gehabt hatte und fühlte sich deswegen schrecklich. Sie hatte Raphael nach Jeremy gefragt in der Hoffnung, sie könnte etwas tun, um dabei zu helfen, die beiden besten Freunde wieder miteinander zu versöhnen. Raphael hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und gesagt, dass Gabrielle ihm einen langwierigen Auftrag gegeben habe und dass er nicht wisse, wann er zurückkehren würde.
»Dann ist Jeremy also zurück.« Lash hatte wieder angefangen, die Karten zu mischen. Seine Stimme klang gepresst.
Rachel sah zu Lash und dann zu Naomi. Mitleid stand in ihren Augen. Dann drehte sie sich mit einem, wie es schien, gezwungenen Lächeln zu Lash um. »Ich habe ihn heute Morgen gesehen. Vielleicht könntet du, Jeremy und Uri eure Pokerrunden wieder aufnehmen.«
Lashs Unterkiefer spannte sich an. Er starrte auf die Karten hinab, als er sie mit den Daumen durchblätterte. Er klopfte mit dem Kartendeck auf den Tisch und mischte wieder wortlos.
Es wurde zunehmend ungemütlich im Raum, als er es vermied, auf den Vorschlag zu antworten.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Naomi zu und zwang ihre Stimme heiter zu klingen. Sie warf Rachel und Uri einen Blick zu, bemerkte die wissenden Blicke, die die beiden einander zu warfen und seufzte. Noch mehr Geheimnisse. Was hatte es bloß mit diesem Ort und den ganzen Geheimnissen auf sich? Sie war nicht daran gewöhnt, dass die Leute um sie herum Geheimnisse vor ihr hatten, besonders, nachdem Lash endlich enthüllt hatte, dass er ein Seraph war und Raphael ihr gesagt hatte, dass sie der siebte Erzengel war.
Lash hatte ihr sogar von seinem Gespräch mit Raphael erzählt und davon, dass Rebecca, der Schutzengel ihrer Großmutter, seine Mutter war und Raphael sein Vater. Und als er ihr erzählt hatte, dass Jeremy sein älterer Bruder war, hatte sie schon geglaubt, sie hätten die Geheimnisse jetzt hinter sich gelassen… anscheinend war dem nicht so. Wie frustrierend! Kein Wunder, dass Lash launisch gewesen war, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Sie warf ihm das nicht im Geringsten vor.
»Erklär es mir noch einmal: Weshalb müssen wir Pintobohnen verwenden?«, fragte Lash und nahm sich eine Hand voll.
Er versuchte offensichtlich, das Thema zu wechseln. Sie seufzte. Vielleicht war es besser, beim Spielen vom mexikanischen Bingo zu bleiben.
»Wir müssen keine Bohnen benutzen. Mit Bingochips würde es genauso gut funktionieren. Belita hat gern Bohnen verwendet.« Ein vertrauter Stich fuhr ihr durch die Brust, derselbe, den sie immer fühlte, wenn sie an ihre Großmutter und ihren Cousin Chuy dachte.
Als Naomi gerade im Himmel angekommen war, hatte sie sich in ihren Trainingspausen vergewissert, dass es ihnen gut ging. Aber mit jedem Mal, das sie das tat, war es für sie schwerer und schwerer geworden, sich von der Brücke über den Bach loszureißen – vom einzigen Fenster, dass ihr zu ihrer Welt geblieben war. Gabrielle hatte ihre Unfähigkeit mitbekommen, sich nach jedem ihrer Besuche zu konzentrieren und ihr befohlen, die Brücke zu meiden bis ihr Training abgeschlossen war.
Zuerst fand sie es unerträglich, dass Gabrielle sie im Grunde darum bat, ihre Familie zu vergessen. Lash war natürlich aus der Haut gefahren und hatte angeboten, die Sache vor Michael zu bringen, und erklärte, sie arbeite schwer und einen Blick auf ihre Familie zu werfen helfe ihr, den Übergang in den Himmel leichter zu machen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, war ihr klargeworden, dass Gabrielle recht hatte. Ihr neues Leben und ihre neue Familie waren hier bei ihm und die beste Art sich zurechtzufinden war, sich in ihrer neuen Rolle als Erzengel zu vergraben.
»Naomi.« Lash berührte sie sanft an der Schulter. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich habe nur an Belita gedacht. Ich vermisse sie und Chuy.«
»Ich vermisse sie auch… und Bear«, sagte Lash und fügte den Chihuahua ihrer Großmutter hinzu. »Verrücktes, kleines Fellknäuel.«
Naomi fragte sich, was sie jetzt gerade taten. Sie fragte sich, ob es dort auch spät am Abend war wie oben im Himmel. In welcher Zeitzone sich wohl der Himmel befand?
Chuy und sein bester Freund Lalo saßen vermutlich gerade am Abendbrotstisch. Sie mussten gerade von der Arbeit gekommen sein. Chuy wäre bei seiner zweiten Portion und Lalo bei seiner dritten. Lalo war praktisch ein Mitglied der Familie und selbst er nannte ihre Großmutter »Belita« und nicht »Anita«, wie sie eigentlich hieß.
Naomi konnte in Gedanken geradezu vor sich sehen, wie Lalo Bear heimlich Stückchen aus Belitas Hühnchen-Mole zusteckte, während Belita damit beschäftigt war, die Küche sauberzumachen.
Rachel gähnte laut, als sie aufstand und den Stuhl über den Boden schob. »Ich bin müde. Komm, Uri. Lass uns nachhause gehen. Wieso spielen wir morgen nicht bei uns?«
»Ihr müsst nicht gehen«, wandte Naomi ein.
Rachel kam zu ihr herüber und umarmte sie. »Das weiß ich doch. Du und Lash, ihr solltet ein bisschen Zeit allein für euch haben. Du hast in letzter Zeit so hart gearbeitet. Außerdem sagt Uri, er hat heute Abend noch eine besondere Überraschung für mich.«
»Mit dir ist doch jeder Abend besonders.« Uri zog sie in seine Arme und entfaltete seine Flügel.
»Uri!«, quietschte Rachel. »Was machst du denn? Ich habe selbst Flügel, weißt du.«
Uri schritt um den Tisch herum zum Wohnzimmer, wo eine Reihe Fenster das Tal überblickte. Alle Fenster standen offen und ließen einen kühlen Lufthauch herein.
»Lash, es war klug von dir aus dem Gemeinschaftshaus aus- und in deine eigenen vier Wände zu ziehen.« Er trat an das mittlere Fenster und sah nach unten. »Der Blick von hier oben ist atemberaubend. Aber warum so weit von allen entfernt?«
So sehr Naomi das Zusammenleben mit Lash liebte, es war in seinem kleinen Zimmer eng gewesen. Lash hatte die Situation sofort in Angriff genommen, indem er ein kleines Cottage auf dem Kamm eines Berges gebaut hatte, der die Wohnungen der Engel überblickte. Viel wichtiger war allerdings, dass sie von ihrem Zuhause aus die Brücke sehen konnte – eine Erinnerung daran, dass Belita nur Minuten von ihr entfernt war. Sie liebte es. Aber tief im Innern fragte sie sich, ob es noch einen anderen Grund gab, aus dem er abseits der anderen leben wollte – oder vielleicht abseits einer einer Person im Besonderen.
Lash schlang seine Arme um Naomi und küsste ihren Hals. »Oh, sagen wir einfach, wir wollten etwas Privatsphäre haben.« Sein heißer Atem strich über ihr Ohr, als er flüsterte: »Und Raum für außerplanmäßige Aktivitäten.«

2
Jeremy lehnte am Brückengeländer. Saphirblaue Augen blickten in Richtung des Berges. In der Ferne konnte er das Schimmern von Lichtern auf dem höchsten Gipfel erkennen.
Er schloss einen Moment lang die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz abklang. In den letzten Wochen, in denen er fort gewesen war, war ihm nicht klar gewesen, dass er immer noch da war und tief in seinem Innern lauerte. Das hatte er Gabrielle zu verdanken. Wie konnte sie wissen, was er fühlte, wenn er es selbst nicht verstand?
Er hatte geglaubt, Zeit abseits von Lash und Naomi zu verbringen, würde ihm helfen, sich über seine Gefühle klar zu werden. Aber als er zurückgekehrt war und allein in Lashs Zimmer gestanden hatte, hatte er sich gefragt, nach wem sein Herz sich sehnte – nach Lash oder nach Naomi.
Frustriert rieb er sich mit den Händen übers Gesicht. Er hatte sich gehen lassen, seitdem er fortgegangen war, fast, als ob er sich selbst bestrafte. Er hatte keinen Gedanken ans Rasieren verschwendet. Er hatte nicht einmal mehr daran gedacht, seine maßgeschneiderten Lieblingsanzüge anzuziehen. Stattdessen trug er, was immer er sich überwerfen konnte, etwa schwarze Anzughosen und T-Shirts. Selbst sein einstmals perfekt frisiertes Haar war anders mit einem zotteligen Pony, der ihm über die Augen fiel und der Rest war lang genug, um ihm übers Schlüsselbein zu streichen. Der einzige Luxus, den er sich gestattete, war eine schwarze Lederjacke, die zu seinen neuen Krokodilstiefeln passte.
Er sah in den dunkler werdenden Himmel hinauf und versuchte, den genauen Moment zu benennen, in dem sich alles verändert hatte. Wann hatte er sich von einem treuen besten Freund in jemanden verwandelt, dem man nicht vertrauen konnte? Konnte er es Lash vorwerfen, dass er ihm nicht traute, wenn er nicht wusste, ob er sich selbst trauen konnte, sobald es um Naomi ging?
Jeremy stieß sich vom Geländer ab und schritt die Länge der Brücke ab. Seine glänzenden schwarzen Stiefel klackten auf dem Holz. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Weiter nichts.
Auf Lash aufzupassen und sicherzustellen, dass er Naomi zum Shiprock brachte – dass war es, was man ihm aufgetragen hatte. Und das hatte er getan. Er hatte seine Anweisungen genauestens befolgt. Was war also das Problem, wenn er ein wenig öfter nach ihnen gesehen hatte, als von ihm verlangt worden war? Es hatte niemandem geschadet. Und er mochte ein klein wenig Eifersucht empfunden haben – nein, Besorgnis. Ja, das war es. Er war besorgt gewesen, als er die offensichtliche Anziehungskraft zwischen den beiden wahrgenommen hatte. Er hatte Lash warnen müssen, sie in Ruhe zu lassen. Er hatte geglaubt, es würde Lashs Chance, nachhause zurückzukehren, ruinieren.
Jeremy erstarrte, als er sich an die Worte erinnerte, die er zu Lash gesagt hatte.
Sie ist nicht für dich bestimmt.
Weshalb hatte er das zu ihm gesagt?
Du weißt weshalb, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf.
Er schlug mit der Hand gegen das Geländer. Er wusste ganz genau, weshalb. Er wünschte, er könnte alles vergessen und mit Lash und Naomi einfach nochmal neu anfangen. Aber das konnte er eben nicht.
Er kämpfte gegen seine Erinnerungen an sie an und umklammerte das Geländer so fest, das seine Fingerknöchel weiß wurden. Vorher war es einfacher gewesen, als sein einziger Fokus darauf gelegen hatte, eine Mission zu erfüllen. Jetzt fiel es ihm schwer, aus seinen Gedanken zu vertreiben, was er empfunden hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte: langes dunkles Haar, das ihr wunderschönes Gesicht einrahmte, während sie sich über die sterbende Deborah beugte. Es war gewesen, als ob ein Blitz in seine Brust eingeschlagen hätte und ein Herz erneut zum Schlagen brachte, von dem er nicht gewusst hatte, dass es zuvor stillgestanden hatte. Erst als Lash sich offensichtlich von der Art bedroht fühlte, in der er sie ansah, war er in der Lage gewesen, sich von dem Ganzen loszureißen und sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Seitdem hatte er die wachsenden Gefühle abgeschüttelt, Gefühle bei denen er keine Ahnung hatte, woher sie kamen, bis Raphael es ihm erklärt hatte – er war sein Sohn und war vor langer Zeit mit Naomi verlobt gewesen.
»Bist du bereit?«
Jeremy fuhr beim Klang der Stimme herum. »Gabrielle. Ich dachte, ich wäre allein.«
Sie trat aus den Schatten heraus. Ein Windhauch wehte weiche blonde Wellen um ein strenges Gesicht. »Du hast dich wochenlang zurückgezogen. Hast du dich auf deine neue Aufgabe vorbereitet?«
Jeremy war von ihrem Ton überrascht. Hatte er geträumt, dass es Gabrielle gewesen war, die erst vor wenigen Wochen vorgeschlagen hatte, dass er fortgehen sollte, um etwas Abstand von allem zu bekommen, was zwischen ihm und Lash geschehen war? Sie hatte so freundlich und geduldig gewirkt.
Er sah wieder zum Berg hinauf und fragte sich, ob Lash noch böse auf ihn war. Und so sehr er auch versuchte, es nicht zu tun, er dachte an Naomi. »Könnte man damit nicht Lash damit beauftragen? Er ist besser geeignet.«
»Michael hat darauf bestanden, dass dieser Auftrag von dir beaufsichtigt wird. Außerdem hast du auf der Erde deine eigene Aufgabe zu erfüllen.« Ihre Stimme klang streng und sie musterte ihn aufmerksam. Etwas musste sie in seinem Gesicht gelesen haben, denn ihre Züge wurden weicher. Es war derselbe Ausdruck, mit dem sie ihn nach seinem Streit mit Lash angesehen hatte. »Hat dir die Auszeit nicht geholfen, dich vorzubereiten?«
»Gabrielle, kannst du nicht eine Ausnahme machen? Ich habe immer meine Pflicht erfüllt und ich habe dich oder Michael nie ausgefragt wegen der Aufträge, die ihr beide mir erteilt habt… nicht einmal, als ihr von mir erwartet habt, meinen besten Freund niederzuschlagen.«
»Deinen treuen Diensten in all diesen Jahren hast du es zu verdanken, dass du im Rang aufgestiegen bist, um ein Erzengel zu werden«, erklärte sie. »Du weißt, dass mit dieser Rolle eine größere Verantwortung einhergeht. Wenn Lash so gehorsam gewesen wäre wie du… na, das spielt jetzt keine Rolle. Er ist ein hoffnungsloser Fall.«
»Wieso hasst du ihn?«
Gabrielle hob eine Augenbraue. »Ich sage es nur, wie es ist. Hat sein Verhalten in der Vergangenheit das nicht bewiesen?«
Jeremy schüttelte den Kopf. Er konnte ihre Feindschaft Lash gegenüber nicht nachvollziehen. Er hatte angenommen, dass sie ihm gegenüber verständnisvoller sein würde, sobald er seine Treue endlich unter Beweis gestellt hätte. Er war zurückgekehrt, nur um festzustellen, dass sie noch genau dieselbe war wie zu dem Zeitpunkt, an dem er fortgegangen war.
»Wenn du dir wegen Lash Sorgen machst, kann ich dir versichern, dass es keine Einmischung seinerseits geben wird. Dafür werde ich sorgen.«
»Mir Sorgen machen? Das kann man wohl sagen. Wenn er herausfindet, dass ich derjenige bin, der mit der Liebe seines Lebens zusammen ihren ersten Auftrag ausführen soll, verdammt – «
Bei seiner Wortwahl wurde ihr Blick stechend.
»Äh, was ich meine, ist...« Er räusperte sich. »Du weißt doch, er ist nicht gerade der Vernünftigste aller Engel. Und seit unserem Streit steht da so einiges zwischen uns.«
»Ich hatte vorgeschlagen, dass du dir eine Auszeit nimmst, damit du, und hoffentlich auch Lash, Gelegenheit findet, über alles Geschehene nachzudenken.« Gabrielle sah zum Berg hinauf und dann wieder zurück zu Jeremy. »Und um etwaige Gefühle aufzulösen, die vielleicht noch… vorhanden sind.«
Jeremy schluckte bei ihrer Andeutung nervös. »Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.«
Ihre Stimme war leise und sanft, als sie fortfuhr. »Du bist dir bewusst, dass du in dem Ruf stehst, ein ausgezeichneter Pokerspieler zu sein. Deine Fähigkeiten wären in dieser Situation nützlich, meinst du nicht?«
Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«
Gabrielle seufzte. »Obwohl ich das Spiel verabscheue, bin ich ziemlich gut darin, das zu bewahren, was man ein Pokerface nennt. Ich würde sagen, ich bin bisher recht erfolgreich damit gewesen.«
Ihr Gesicht veränderte sich, als ob eine Maske von ihr abgenommen würde, und das strenge Auftreten, für das sie bekannt war, wurde durch das einer sanften und verletzlichen Frau ersetzt. »Du hast Gefühle für das Mädchen. Das war offensichtlich, als du an ihrem Bett gesessen und darauf gewartet hast, dass sie aufwacht. Tatsächlich stand es dir deutlich ins Gesicht geschrieben, als du sie das erste Mal gesehen hast, damals, als du deinen Auftrag mit Deborah und Nathan ausgeführt hast.«
»Das hast du gesehen?«
»Ja.« Ihre Stimme war leise.
»Wieso? Wieso hast du über mich gewacht?«
»Weil ich wusste, was du vor langer Zeit für sie empfunden hast, als sie deine Frau werden sollte. Und ich weiß, dass solche Gefühle nicht verschwinden – selbst, wenn Erinnerungen unterdrückt werden.«
Er trat einen Schritt nach vorn und packte sie am Arm. »Was weißt du noch? Sag es mir.« Er musste mehr erfahren. Vielleicht, wenn er wusste, was in seiner Vergangenheit geschehen war – vielleicht konnte er seine wachsenden Gefühle dann loswerden.
Sie schrak zurück und sah auf seine Hand hinunter.
»Entschuldige.« Er ließ seine Hand sinken. Er ging zu weit. Er musste sich besser kontrollieren.
» Es ist nicht an mir, die Geschichte zu erzählen.« Sie rieb sich die Stelle ihres Arms, an der er sie gepackt hatte. »Das ist etwas, das Raphael mit dir, Lash und Naomi teilen will. Er jetzt gerade bei Michael und bittet um die Erlaubnis, einiges von eurer Vergangenheit enthüllen zu dürfen.«
»Werden wir unsere Erinnerungen zurückerhalten?«
»Das ist unwahrscheinlich. Ich bin mir sicher, dass Raphael dir erzählt hat, dass die Unterdrückung eurer Erinnerungen Teil seiner Bestrafung ist.«
Jeremy nickte. Als er an Naomis Seite darauf gewartet hatte, dass sie aufwachte, hatte Raphael ihm erklärt, weshalb er und Lash sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnten. »Das scheint eine lange Zeit zu sein, um bestraft zu werden.«
»Es ist nicht deine Sache, zu entscheiden, wie lange eine Bestrafung dauern soll«, maßregelte sie ihn. »Aber ich muss dir zustimmen. Ich glaube, es ist immer weitergegangen, weil es mit dem zusammenhängt, was gerade passiert – einschließlich deines aktuellen Auftrags. Was Raphael getan hat, hatte einen Dominoeffekt nicht nur auf dich, Lash und Naomi, sondern letztlich auch auf...« Sie hielt inne und Jeremy starrte sie mit angehaltenem Atem an.
»Nun, ich muss los. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass dein Auftrag auf dich zukommt, und ich wollte dir Zeit geben, dich vorzubereiten.«
Jeremy stieß enttäuscht den Atem aus. Sie verriet nichts. Trotzdem musste er einen Weg finden, seinen Auftrag loszuwerden, wenn er die Dinge mit Lash je wieder richtig hinbiegen wollte.
»Gibt es für mich irgendeine Möglichkeit, meinen Auftrag anzufechten? Vielleicht, wenn ich mit Michael rede?«
»Das könntest du, aber es würde ihn nur noch ungehaltener machen. Ich habe schon deinetwegen mit ihm gesprochen. Was meinst du, warum du die Erlaubnis erhalten hast, fortzugehen und für dich allein zu sein?«
»Das hast du getan?«
»Allerdings. Weshalb siehst du so überrascht aus? Es ist doch bekannt, dass ich von Zeit zu Zeit ein oder zwei nette Dinge zustande bringe.« Bei diesen Worten funkelte es in ihren grünen Augen.
Er blinzelte schockiert. Sie sah tatsächlich aus, als ob sie sich über ihn lustig machte.
»Michael wollte, dass ihr Unterricht deiner Verantwortung obliegt und dass du sie auf ihrem ersten Auftrag begleitest. Ich habe ihn überzeugt, mir zu gestatten, das Training zu leiten.«
»Gabrielle, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« Wenn sie nur so nachsichtig mit Lash sein könnte, wäre das Leben seines Bruders ganz anders. Obwohl Lash es niemals zugeben würde, war das Einzige, was er je von ihr gewollt hatte, Respekt.
»Da bist du ja!«, rief Raphael von den Gärten her. »Ich habe nach dir gesucht, Jeremiel.« Ein älteres Abbild seiner selbst kam mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf sie zu. »Willkommen zurück, mein Sohn.«
Jeremy schluckte bei diesen Worten schwer. Raphael hatte sich für ihn immer wie ein Vater angefühlt. Obwohl er immer Lash mit seiner Aufmerksamkeit zu überhäufen schien, hatte Raphael es geschafft, ein wenig seiner Zeit mit ihm zu verbringen.
»Wenn ich mir das Lächeln auf deinem Gesicht so ansehe, gehe ich mal davon aus, dass dein Treffen mit Michael gut gelaufen ist«, sagte Gabrielle.
»Ja. Ja, das ist es. Er hat zugestimmt, dass es für uns alle gut wäre, einige Informationen aus unserer Vergangenheit zu teilen in der Hoffnung, dass es unsere Verbindungen zu stärken und die Heilung vorantreiben möge.« Raphael wandte sich zu Jeremy um und schlug ihm auf die Schulter. »Komm, Jeremiel. Wir haben viel mit deinem Bruder zu besprechen.«
Gerade, als Jeremy sich umdrehte, nahm er wahr, wie Gabrielle Raphael mit einer derartigen Sehnsucht ansah, dass er ein ein zweites Mal hinsehen musste. Ihre grünen Augen verengten sich und ihr Gesicht verschloss sich wieder zu der alten Gabrielle und er fragte sich, ob er sich Dinge einbildete. Sie warf einen Blick hinauf zum Berg und wieder zu ihm zurück. Dabei warf sie ihm ein verstohlenes Lächeln zu. »Denk an das, was ich gesagt habe, Jeremy. Betrachte es als ein Pokerspiel.«

3
Naomi stellte das Geschirr ins Waschbecken und begann, fieberhaft die Küche zu putzen in dem Versuch, die Vorstellung von einem sterbenden Uri aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sie wollte nicht an die Möglichkeit denken, Lash auf eine solche Weise zu verlieren.
»Was machst du da?« Lash stand hinter ihr und strich ihr mit einem Finger über den Hals.
»Ich bin beim Putzen.« Sie fegte die Bohnen in einen Behälter und steckte die Bingokarten in eine kleine Schachtel.
»Ich habe das ernst gemeint.« Er nahm ihr die Schachtel aus den Händen und legte sie zurück auf den Tisch.
Glühende haselnussbraune Augen hielten ihren Blick fest und wanderten langsam zu ihrem Mund herab. Er strich sanft mit einem Daumen über ihre Unterlippe und starrte fasziniert darauf.
Ihr stockte der Atem. Dann atmete sie seinen köstlichen Duft ein, der sie Uri, Rachel, die Hölle und den Tod vergessen ließ. »Was hast du gesagt?«
Er trat dichter an sie heran. Seine Lippen schwebten über ihren fühlten sich leicht wie Federn an, als sie, flüsternd, sanft gegen ihre strichen. »Das weißt du.«
Er hob seinen Kopf und schenkte ihr dieses sexy Grinsen, das in ihr immer das Gefühl auslöste, ihr Körper stünde in Flammen. Lange Finger fuhren durch ihr Haar. Er hob eine dicke, wellige Strähne an seine Nase und schnupperte daran. In seinem Oberkörper vibrierte ein zufriedenes Knurren. Sie fühlte, wie ihr die Knie weich wurden.
Sanft strich er ihr das Haar über die andere Schulter, seinen Blick auf ihre Augen gerichtet. Seine Finger legten sich um ihren Nacken und er zog sie näher an sich heran.
Sie erschauerte, als seine Zunge in ihrer Ohrmuschel kreiste, heiß und feucht. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr.
»Lenke ich dich ab?« Seine Stimme klang tief und sinnlich.
»N–nein.« Sie keuchte auf, als glühend heiße Lippen sich an ihren Hals pressten und langsam nach unten glitten. »Du sagtest etwas von Aktivitäten?«
Er hob ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Sie konnte die glühende Hitze seines gut definierten Körpers unter seinem Hemd fühlen. »Mm–hmm.« In seiner Brust vibrierte es und brachte ihre Finger zum Kribbeln.
Er presste seine Hand auf ihre und in seinen Augen funkelte es spitzbübisch. »Gefällt dir der neue und verbesserte Lash?«
Er führte ihre Hand an seiner Brust herab und sie genoss es, seine harten Muskeln zu fühlen. »Ja«, hauchte sie, als ihre Finger über seine Bauchmuskeln strichen. »Mehr, als du ahnst.«
»Zeig es mir.« Seine Stimme war heiser vor Verlangen.
Sie schlang ihre Finger in sein seidig weiches Haar und zog ihn zu sich herab. Fiebernde Lippen pressten sich auf ihre. Heiße, feuchte Lippen verschlangen ihren Mund; sein Kinn kratzte mit jeden Stoß seiner Zunge über ihres und ihr Kinn fühlte sich rosig und wund an.
Sie zog an seinem Hemd. Sie sehnte sich verzweifelt danach, seine Haut und die Wärme seiner Brust an ihrer zu spüren. Sie trennten sich einen Moment lang voneinander und Kleidungsstücke flogen zu Boden. Dann griff Lash nach unten und hob sie an. Sie schlang ihre Beine eng um seine Hüften.
Dann fühlte sie die kühle Wand in ihrem Rücken, als Lash sich gegen sie presste. Sie stöhnte auf unter der Härte seiner Berührung und alles in ihr pulsierte – sie wollte ihn – brauchte ihn. Sie könnten das hier tausendmal tun und es wäre immer noch nicht genug.
Sie klammerte sich an seinem Rücken fest und seine Lippen glitten über ihre Kehle hinab zu den Ansätzen ihrer vollen Brüste. Sie warf den Kopf in den Nacken, stöhnte auf und presste ihre Beine noch enger zusammen. Lash stöhnte.
Sie fuhr mit ihrer Zunge die Linie seines kräftigen, kantigen Kinns entlang und genoss das kratzige Gefühl seiner Bartstoppeln. Er stöhnte erneut auf und sie keuchte auf, als er unter ihr noch um einiges härter wurde.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, erklang das laute Klappern von Tisch und Stühlen, die zu Boden fielen, als Lash, sie fest an sich gedrückt, aus der Küche in ihr Schlafzimmer polterte.
Als er sie losließ, sank sie in eine weiche Wolke zurück. Lash stand über ihr. In seinen Augen glühte es vor Leidenschaft. »Du bist so wunderschön.«
Langsam legte er sich neben sie. Seine Finger strichen sanft, kaum spürbar, über ihre Lippen, über ihren Hals hinunter und umkreisten ihre Brust. Sie stöhnte auf bei seiner federleichten Berührung.
»Komm her.« Sie zog ihn an sich.
Sein steinharter Körper presste sich an ihren Oberkörper, als er sie innig küsste.
»Naomi, meine Naomi«, murmelte er, als er an ihrem Hals saugte, um sie zu schmecken. »Ich liebe dich.«
Ihr Herz schwoll an vor lauter Liebe für ihn. Sie würde nie genug davon bekommen, diese Worte zu hören.
»Du gehörst mir«, flüsterte er. »Für immer.«
Ein quälendes Gefühl durchströmte sie auf einmal, als die Worte »für immer« in ihren Gedanken widerhallten. Dann tauchte das Bild von Rachels von Trauer gezeichnetem Gesicht vor ihr auf.
»Warte, Lash«, sagte sie und setzte sich im Bett auf. »Mir ist gerade etwas eingefallen.«
»Ich beseitige das Durcheinander in der Küche später.« Er zog sie wieder zu sich herab und sagte zwischen seinen Küssen: »Denk weniger, mach mehr.«
Sie setzte sich wieder auf. Irgendetwas an dem Ganzen stimmte nicht. Aber was? Sie hatte dieses merkwürdige Gefühl noch nie zuvor gehabt. Warum jetzt? »Irgendwas stimmt nicht.«
Er seufzte und drehte sich auf den Rücken. »Was soll denn nicht stimmen? Wir sind allein; wir sind zusammen.«
»Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»Sollten wir zusammen sein?«
Er fuhr hoch, Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. »Hast du Zweifel an uns?«
»Nein, nein! Überhaupt nicht.« Sie fühlte sich sofort schuldig, weil sie diesen Gedanken in ihm wachgerufen hatte. »Das meine ich nicht. Du bist der Einzige für mich. Ich kann niemals ohne dich sein.« Sie beugte sich hinüber und küsste ihn zärtlich.
Er seufzte erleichtert auf. »Was stimmt dann also nicht?«
»Ich meinte nur – sollten wir das… na ja, das hier tun?« Naomi deutete auf seinen nackten, seinen umwerfenden nackten Körper.
Er zog sie an sich und schnupperte an ihrem Hals. »Mmm. Definitiv.«
Naomi erschauerte, als seine Hände ihre Brüste streichelten. Sie ließ sich ins Bett zurückfallen. Ja, das hier war richtig. Es fühlte sich so richtig an. Was dachte sie sich nur?
Ihre Hände streichelten seinen Oberkörper. Er fühlte sich so gut an.
»Oh Gott, Naomi. Ich will dich so sehr.«
Gott!
»Warte, Lash«, keuchte sie und versuchte, zu Atem zu kommen. Langsam tauchten Erinnerungen an lange Nachmittage im Katechismus-Unterricht und an Belitas Ermahnungen über Keuschheit vor ihr auf. »Ich meine, sollten wir auf diese Weise zusammen sein, wenn wir nicht verheiratet sind?«
Er zog sich aus ihrer Umarmung zurück und sah sie erstaunt an. »Verheiratet?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie war nicht sicher, wie sie dieses Thema angehen sollte. Es war schließlich nicht so, als sei sie prüde oder so. Lash war nicht der erste Mann, mit dem sie geschlafen hatte. Der Gedanke an Sex vor der Ehe hatte sie nie zuvor gestört, trotz der Ermahnungen Belitas und ihres Vaters über das Keusch-Bleiben. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Sie war ein Erzengel. Sollte sie nicht eigentlich ein Vorbild sein oder sowas in der Art?
»Naja, ich weiß ja nicht, ob Erzengel heiraten oder irgendeine Art formeller Vereinigung haben. Ich meine, ich habe keine Ahnung, ob solche Dinge wie eine Heirat hier dasselbe bedeuten wie auf der Erde.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Das tun sie. Viele Engelpaare geben sich Versprechen gegenseitiger Hingabe, Uri und Rachel zum Beispiel.« Er schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ist es das, was du willst?«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Ja. Ich will mit dir verbunden sein. Für immer.«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. In seinen Augen stand so viel Liebe, dass es ihr den Atem verschlug. »Es gibt auch nichts, das ich mehr möchte, als mit dir verbunden zu sein. Ich werde morgen mit Michael sprechen und Vorbereitungen treffen.« Er beugte sich vor und küsste sie.
Sie fühlte, wie sie langsam wieder aufs Bett zurücksank und wie seine Hände die Innenseiten ihrer Oberschenkel streichelten.
Sie stöhnte auf und das Gefühl der Schuld stieg wieder in ihr auf. »Lash, vielleicht sollten wir warten, bis das hier offiziell ist.«
Er seufzte und drehte sich wieder auf den Rücken. »Du bringst mich noch um, Naomi.«
»Tut mir leid. Es ist nur, na ja, vielleicht ist es besser, wenn wir es von Anfang an richtig angehen.«
»Wieso jetzt auf einmal? Wir haben das hier ununterbrochen gemacht, seit du hier angekommen bist.« Er setzte sich auf und warf ihr einen glühenden Blick zu. »Und wenn ich mich recht erinnere, war deine laute Begeisterung einer der Gründe, aus denen ich unser Zuhause hoch oben auf diesem Berg hier gebaut habe, fernab von neugierigen Augen und Ohren. Ich glaube, du hast sogar Gabrielles Trommelfelle zum Platzen gebracht, wenn ich mal von den schmutzigen Blicken ausgehen darf, die sie mir in letzter Zeit zuwirft.«
Ihr blieb der Mund offen stehen und ihr Gesicht lief heiß an. Neben verbessertem Sehvermögen und größerer Kraft hatten Engel auch ein besseres Gehör. Die meiste Zeit über war das positiv. Aber wenn man in beengten Räumlichkeiten lebte und Privatsphäre wollte? Dann nicht so sehr.
»Ich… du… na ja...« Sie war ganz verlegen.
Er gluckste leise und küsste ihre Nasenspitze. »Du bist so süß, wenn du verwirrt bist.«
»Ahhh!« Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in einen Bademantel. »Ich meine es ernst.«
Er lehnte sich zurück gegen das Kopfende des Betts und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Sag mal, was ist das eigentliche Problem?«
Sie setzte sich auf die Bettkante. Er las sie wie ein offenes Buch. »Es ist das, was Rachel von sich und Uri erzählt hat. Ich will nicht, dass uns das passiert.«
Sein Blick wurde ernst und er streckte die Hand aus, um ihr die Wange zu streicheln. »Das wird es nicht. Ich bin hier bei dir. Ich gehe nirgendwo hin.«
»Aber was ist, wenn wir durch dieses Vorehelicher-Sex-Zeug in Schwierigkeiten kommen? Ich will kein Risiko eingehen.«
»Naomi, das wird nicht passieren.«
»Ich fühle mich besser, wenn wir es offiziell machen.« Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft.
Er sah sie an und schüttelte lachend den Kopf. »Wenn du dich dann wirklich besser fühlst...«
»Ja, das werde ich.« Sie strahlte. »Erzähl mir, wie die Zeremonie abläuft.«
»Na ja, es ist gar nicht so anders als das, was du wahrscheinlich zu sehen gewohnt bist. Michael führt ein Bindungsritual durch und das Paar gibt sich gegenseitig vor Zeugen ein Gelübde.«
»Bist schon mal dabei gewesen?«
»Uri und Rachel hatten ihre Zeremonie vor einiger Zeit. Das war 1987 oder 1988. Ich weiß es nicht mehr genau. Es war aber definitiv in den 80ern. Er hatte damals diese komische Flock-of-Seagulls-Frisur.«
Sie lachte bei der Vorstellung von Uri mit Haar, das zu einem Paar Flügel gestylt war, passend zu den Schwingen auf seinem Rücken. Diese Frisur war in den 80ern voll in Mode gewesen. Die Vorliebe ihres Vaters für alternative Musikrichtungen und New-Wave-Bands hatte sie mit einer großen Bandbreite an merkwürdig aussehenden Frisuren und Modeerscheinungen vertraut gemacht. »Ja, ich kann mir definitiv vorstellen, dass er das macht.«
Naomis Lachen wurde leiser und sie wurde wieder ernst, als sie an die Zeremonie dachte. Sie hatte sich nie vorgestellt zu heiraten oder sich an jemanden zu binden, nicht, bis sie Lash kennengelernt hatte. Sie wusste, dass es etwas war, das Belita sehr gern miterlebt hätte. Und ihr Vater hätte es geliebt, sie den Mittelgang hinunterzuführen, ihren Arm in seinen eingehakt. Tränen stiegen ihr in die Augen beim Gedanken daran, dass ihre Familie nicht dabei sein würde, um es mitzuerleben.
»Ich dachte, das macht dich glücklich?« Seine Stimme war leise.
Sie sah zu ihm auf und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Das bin ich. Ich binde mich an dich.« Sie küsste ihn liebevoll auf die Lippen.
»Sei ehrlich. Wir wollen doch für immer nicht mit Geheimnissen anfangen, oder?«
Sie seufzte. »Es ist nur, dass ich manchmal meine Familie vermisse. Sie werden nicht hier sein, um das zu sehen. Und mein Dad, ich werde das nie mit ihm erleben.«
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Sein Gesicht wurde blass. Ohne ein weiteres Wort stand er schnell vom Bett auf, ging in die Küche und goss sich ein Glas Wasser ein.
Sie beobachtete, wie sich seine Rückenmuskeln anspannten, als er still von ihr abgewandt dastand. »Lash?«
Er stürzte sein Getränk hinunter, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwandte. Seine Lippen waren nass, als er sprach. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um das für dich hinzubiegen.«
»Oh, Lash. Es ist nicht deine Schuld, dass mein Vater tot ist oder dass ich hier bin. Ich muss mich einfach immer wieder daran erinnern, dass ich mich besser um meine Familie kümmern kann, wenn ich hier bin.«
»Äh, Naomi.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Feuchtigkeit von den Lippen. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«
»Was ist es?«
Er leckte sich nervös über die Lippen und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder.
»Lash?« Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Etwas stimmte nicht. Wieso verhielt er sich so merkwürdig?
Er schüttelte den Kopf. Dann sah er sie mit einem Lächeln an, das seine Augen nicht ganz erreichte. »Du hast völlig recht. Wir werden gemeinsam über Belita und die anderen wachen. Ich sag dir was: Lass uns morgen früh einen Blick auf sie werfen.«
»Das würde ich wirklich gern tun!« Sie strahlte, dann runzelte sie plötzlich die Stirn. »Nein, warte. Ich denke nicht, dass wir das tun sollten. Gabrielle war ziemlich strikt, als es darum ging, dass ich mich für eine Weile von der Brücke fernhalten sollte.«
»Ach, mach dir um sie keine Gedanken. Wir werden einfach schnell sein.«
Sie schwankte zwischen dem Verlangen, Gabrielles Anweisungen zu befolgen und dem Wunsch, Belita zu sehen. Sie wollte ihr so gern von ihrer Bindungszeremonie mit Lash erzählen. Das kam Belitas Anwesenheit dabei am nächsten. »Vielleicht sollte ich allein gehen.«
»Ich will mit dir mitkommen.«
»Ich will nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst. Du bist gerade erst zurück!«
»Hörst du endlich mal damit auf, dir Sorgen zu machen? Ich werde okay sein. Außerdem hat man mir nicht gesagt, ich soll mich von der Brücke fernhalten.« Er grinste. »Ich würde sie wirklich gern sehen. Sie werden bald auch meine Familie sein.«
Sie schlang ihre Arme um ihn. »Lash, du hast mich zur glücklichsten Frau der Welt gemacht. Ich liebe dich.«
Er schob sie ein Stück von sich weg und sah ihr in die Augen. »Bedingungslos?«
Sie blinzelte überrascht. »Natürlich. Weshalb fragst du so komisch – «
Sie fuhr zusammen, als es plötzlich an der Tür klopfte. »Wer kann das sein? Die Einzigen, die hierher kommen, sind Uri und Rachel.« Naomi raffte ihren Bademantel enger und stapfte zur Tür.
Er griff nach ihrer Hand. »Nicht.«
Sie lachte. »Was ist den heute mit dir los? Du bist so nervös.«
»Ich mach schon auf«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf, während er sich fieberhaft eine Jeans überzog. »Du benimmst dich, als ob wir mitten im gefährlichsten Viertel Houstons leben würden.«
Er eilte zur Vordertür und und öffnete sie schwungvoll. Sein Unterkiefer spannte sich an und seine Hände verkrampften sich zu Fäusten.
»Bro!«, rief Jeremy, als er eintrat und ihm im Vorbeigehen auf den Rücken klopfte. »Bin ich zu spät zum Bingo?«

4
Ein Sturm aus Gefühlen tobte in Lash, als er Jeremy ins Zimmer treten sah. Er holte tief Luft und erinnerte sich selbst daran, das dies sein Bruder war – und sein langjähriger bester Freund. Er tat sein Bestes, um die Vision – nein, die Erinnerung, die er von Jeremy und Naomi hatte – abzuschütteln.
Es war eine Erinnerung, die sich wieder und wieder in seinem Kopf abspielte, selbst, nachdem Jeremy in seiner sogenannten Auszeit fortgegangen und Lash mit Naomi in ihr Zuhause am Berg gezogen war. Es war die Erinnerung daran, wie Jeremy Naomis Vater einen Trauring überreichte, ein Symbol aus vergangenen Zeiten, als der Erstgeborene einer Familie direkt beim Vater der Frau um ihre Hand anhielt. Raphael hatte nicht abgestritten, dass es sich um eine Erinnerung handelte.
Und Jeremy? Er musste gar nichts sagen – der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte schon alles. Lash erinnerte sich an diesen Gesichtsausdruck, als er Naomi zum ersten Mal gesehen hatte. Lash konnte diesen Ausdruck nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Da stand er nun und tat, als ob sich nichts verändert hätte.
Obwohl Naomi darauf beharrte, dass alle ihre Erinnerungen von Lash handelten, konnte er nicht anders, er fragte sich ob sie in der Vergangenheit – einer Vergangenheit, an die sie sich nicht erinnern konnte – Jeremy geliebt hatte. Würde sich das jetzt ändern, jetzt, da Jeremy zurück war und sie ihn besser kennenlernte? Es schien, als ob alle ihn mochten, selbst Gabrielle.
Nein. Er musste daran glauben, dass Naomi zu ihm halten würde, egal, was passieren mochte.
Als er gerade etwas sagen wollte, schwebe Raphael durch die Tür. Sein Lächeln verschwand, als ihm Lashs Gesichtsausdruck auffiel.
»Sind wir in einem ungünstigen Moment gekommen?«
Das kann man wohl sagen, dachte Lash. Seine Blicke folgten Jeremy, während der goldhaarige Engel auf die einzige Person zuging, die er ganz für sich allein haben wollte. Als Naomi zu ihm hoch lächelte, musste er gegen den Instinkt ankämpfen, sie zu packen und sie so weit von seinem Bruder wegzubringen wie möglich.
»Natürlich nicht«, antwortete Naomi und wandte sich dann an Jeremy. »Na, nun sag schon.«
Jeremy wurde blass und ein merkwürdiger Ausdruck flackerte über sein Gesicht. »Äh, sag was?«
»Die Stiefel«, entgegnete sie. »Rachel hat erzählt, dass du dir ein Paar zugelegt hast.« Sie sah erwartungsvoll auf seine Füße.
Jeremy stieß den angehaltenen Atem aus und sein immerwährendes Grinsen kehrte zurück. »Worauf du dich verlassen kannst.« Er streckte seinen Fuß vor. »Sind die hier nicht ziemlich cool?«
Sie lachte. »Du hast definitiv ein paar Veränderungen vorgenommen, als du weg warst. Ich vermisse dein Anzüge, obwohl mir deine Lederjacke gefällt. Bist du deshalb so lange weg gewesen? Zum Shoppen?«
»Wieso? Hast du mich vermisst?« Jeremy zwinkerte.
Lash machte einen Schritt nach vorn. Er mochte die Richtung nicht, in die das Ganze sich entwickelte – ganz und gar nicht.
Sofort trat Raphael vor Lash und versperrte ihm den Weg. »Wir haben dich alle vermisst, Jeremiel«, sagte er.
»Du bist so schnell verschwunden, nachdem du und Lash...« Naomi biss sich auf die Unterlippe und warf Lash einen nervösen Blick zu. »Na ja, ich hatte gehofft, ihr beide würdet euch aussprechen.«
»Deswegen sind wir hier«, warf Raphael ein. »Ich habe die Erlaubnis erhalten, euch einiges aus eurer Vergangenheit zu enthüllen. Wollen wir uns hinsetzen?«
Als sie im Wohnzimmer zusammenkamen, ergriff Lash fest Naomis Hand. Er sah Jeremy an, der ihnen gegenüber neben Raphael saß. Etwas stimmte an Jeremy nicht. Obwohl er lächelte, wirkte er nicht glücklich. Der besondere Funke, der sonst jeden zu ihm hinzog, war verschwunden. In all den Jahren, in denen er ihn gekannt hatte, hatte Jeremy noch nie so ausgesehen wie jetzt. Es war immer umgekehrt gewesen: Er war der Nachdenkliche gewesen und Jeremy war an seiner Seite, um ihn von dem abzulenken, was ihn bedrückte. Er schwankte zwischen dem Verlangen, seinen alten Freund aufzubauen und dem Wunsch, wütend auf ihn zu bleiben.
Er sah, wie Jeremys Blick sich auf Naomis Hand richtete, die seine festhielt. Dann, als er bemerkte, dass Lash ihn beim Starren erwischt hatte, sah er schnell woanders hin.
Es ist leichter, wütend auf ihn zu sein, dachte er.
»Bevor Jeremiel zu seinem« – Raphael sah zu Jeremy und räusperte sich – »verlängerten Auftrag aufgebrochen ist, habe ich ihm die gleichen Informationen gegeben, die ich dir auch gab, Lahash.«
»Hermano!« Jeremy streckte ihm grinsend eine Faust entgegen. »Lass mich nicht länger zappeln, Bro.«
Lash fühlte, wie Naomi ihm in die Rippen stieß. Seit wann hat sie einen derart spitzen Ellbogen?
Er seufzte und streckte seine Hand für einen Fist-Bump aus.
Naomi strahlte. »Das würde erklären, weshalb ihr zwei über all die Jahre so gute Freunde wart.«
»Waren«, murmelte Lash leise.
Jeremy runzelte leicht die Stirn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du weißt, dass ich dir von meinem Auftrag erzählt hätte, wenn es mir erlaubt gewesen wäre.«
»Ja, klar. Wie auch immer.«
»Lash«, sagte Naomi warnend.
Er ließ ihre Hand los und sein Blick verfinsterte sich. »Ich dachte, du traust ihm nicht, und jetzt auf einmal findest du, wir sollen alle eine glückliche Familie sein. Ich weiß nicht. Vielleicht ist es für mich besser, wenn ich mich nicht an die Vergangenheit erinnere.«
»Wie kann es besser sein, keine Erinnerung an deine Familie zu haben?«, erwiderte sie. »Sie ist ein Teil von dem, was du bist«
»Das sind weise Worte, Naomi«, pflichtete Raphael ihr bei. Seine Stimme war leise und strahlte Autorität aus. Er wandte sich an Lash und sah im direkt in die Augen. »Der, der du heute bist, stammt von dem, der du gestern warst. Deine Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart und es ist die Familie, die dein Wachstum lenkt.«
»Seht ihr, das ist genau das, was ich meine. Wir wissen alle, dass ich ein schwarzes Schaf bin.« Lash stand auf und schritt auf und ab. »Ich habe nur wenige Erinnerungen zu sehen bekommen, aber das war für mich genug, um zu wissen – um selbst damals zu erkennen – dass ich der Zweitbeste war – nach dir.« Er deute auf Jeremy.
»Lahash.« Raphael stand auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Luzifer hat dir nur gezeigt, was für ihn von Vorteil war.«
Lash schüttelte seine Hand ab. »Nein, Raphael. Es war mehr als das. Selbst vor den Erinnerungen habe ich es gefühlt. Ich weiß, dass du enttäuscht warst, weil ich ein Seraph geblieben bin und nach fast jedem Auftrag verwarnt wurde. Jeremy und ich haben beide als Seraphim angefangen und innerhalb eines Jahres hat er eine Position als Erzengel erhalten. Und ich, na ja...«
»Bleib aber fair, Lash«, warf Jeremy ein. »Du hast in Gabrielle von Anfang an eine Feindin gesehen.«
Lash fuhr herum. »Halte du die Klappe!«
Naomi keuchte auf. »Lash«!
»Nein, Naomi. Du warst nicht dabei, du weißt es nicht.« Er atmete schwer. Er war es leid, dass alle für Jeremy Partei ergriffen. »Damals habe ich es nicht erkannt. Aber jetzt tue ich es. Jeder Schritt, den ich tat, wurde hinterfragt. Und Jeremy? Niemals. Wir haben dieselben Dinge gemacht, aber Jeremy kam immer davon. Und ich? Ich war derjenige, der in Schwierigkeiten geriet. Es war immer, als könnte er nichts falsch machen.«
»Das ist nicht wahr!« Jeremy war aufgesprungen.
»Du hast vermutlich recht.«, sagte Raphael sanft.
Jeremy erstarrte und Lash klappte der Unterkiefer herunter.
Einen Moment lang herrschte eine angespannte Stille im Raum, bevor Raphael fortfuhr. »Bitte setzt euch hin und lasst es mich erklären.«
Naomi zog an Lashs Arm. Er brauchte nur einen Blick auf die Tränen zu werfen, die in ihren Augen schimmerten, und schmolz dahin. Er hatte nicht vorgehabt, sie anzuherrschen. »Tut mir leid. Vergibst du mir?«
Sie nickte.
Er setzte sich wieder neben sie, legte einen Arm um sie und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Raphael zu.
»Wie du weißt ist Jeremiel dein älterer Bruder. Wie es damals üblich war, hatte der Erstgeborene mehr Rechte, als alle anderen Familienmitglieder. Er war der Erbe dessen, was unsere Familie besaß. Sein Recht als Erstgeborener erlaubte ihm vor Lash zu heiraten – und hier kommt deine Familie ins Spiel.« Er sah Naomi an, als er das sagte.
Sie presste sich eine Hand an die Brust. »Meine Familie?«
»Naomi.« Raphael streckte den Arm aus und ergriff ihre Hand. »Deine Familie ist aus der Stadt Ai. Dein Vater besaß ein Gasthaus und war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Man sagte von ihm, dass er als einer der Räte der Stadt geschätzt wurde.« Er ließ ihre Hand los und sah Jeremy und Lash an. »Ihr beide seid Sprösslinge einer menschlichen Mutter mit einem Engel als Vater.«
»Rebecca«, sagte Lash.
Raphael nickte und beim Klang des Namens wurde sein Gesicht traurig.
»Also sind wir Nephilim« sagte Jeremy und setzte sich wieder hin.
»Was?« Naomi verschlug es den Atem. »Sind Nephilim nicht bösartige Riesen?«
»Manche der Geschichten, die über die Zeiten hinweg erzählt wurde, sind nicht ganz zutreffend.«, erklärte Raphael. »Genau, wie es bösartige Menschen gibt, gab es auch Nephilim, die ihr Erbe ausnutzten. Meinen Söhnen brachte ich Bescheidenheit und Respekt gegenüber allen anderen in ihrem Umfeld bei. Und damals wussten sie noch nicht, dass sie geborene Halbengel waren.«
»Ich dachte, alle Nephilim seien ausgelöscht worden.«, wandte Naomi ein.
Raphael lächelte. »Du bist mit der Bibel gut vertraut.«
»Katechismus-Unterricht jeden Mittwoch. Ich habe einmal geschwänzt, aber Chuy hat mich bei Belita verpetzt. Ich konnte eine Woche lang nicht sitzen.« Mit einem Lächeln auf dem Gesicht seufzte Naomi, als sie sich daran erinnerte.
Raphael atmete tief ein, als ob das, was er als nächstes sagen musste, ihm schwer fiel. »Unter den Menschen zeichneten sich die Nephilim durch ihre Schönheit und Stärke aus. Viele Menschen in der Stadt verehrten sie, als seien sie Götter. Jeremiel« – er warf Lash einen vorsichtigen Blick zu – »war wegen seiner Kraft und Geschicklichkeit sowohl bei den Menschen als auch bei den Nephilim besonders beliebt. Es gab viele Familien, die ihre Töchter mit ihm verloben wollten, einschließlich deiner Familie, Naomi.«
»Das passt«, murmelte Lash.
Naomi tätschelte sein Bein. »Das liegt alles in der Vergangenheit. Ich bin jetzt hier bei dir.«
Lash sah zu ihr hoch und strich ihr mit einem Finger über die Wange. »Ja, das bist du.« Er wandte sich wieder Raphael zu und nahm wieder einen merkwürdigen Ausdruck auf Jeremys Gesicht wahr. Er ignorierte es, weil er Naomi nicht erneut verärgern wollte.
»Es war nicht so, als ob du ungeschickt gewesen wärst oder es dir an Kraft gefehlt hätte, mein Sohn. Ich fürchte, ich habe die Aufmerksamkeit der Leute auf Jeremiel verstärkt und von dir abgelenkt. Von dem Tag an, an dem ihr beide euch begegnet seid, war es klar, dass Naomi nur dich wollte. Und ich...« Er schluckte schwer. »Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um Naomi von dir abzuwenden.«
Er sah Lash mit gequältem Blick an. »Das ist eine Erinnerung, von der ich wünschte, ich könnte sie vergessen. Glaub mir, wenn ich es dir sage, Lahash – es vergeht kein Tag, an dem ich mein Handeln nicht bereue.«
»Wieso hast du das getan?«, fragte Naomi. Ihre stimme klang heiser vor Schmerz. »Wieso hättest du deinem eigenen Sohn so wehtun sollen?«
Rapahel warf einen Blick auf Jeremy und wandte sich dann ihr zu. »Weil ich… weil ich Jeremiel besonders liebte.« Er hielt inne, seine Augen starr zu Boden gerichtet. Die Worte kamen langsam, vorsichtig. »Und er… liebte dich besonders.«
Lash sprang auf und brüllte Jeremy an: »Raus!«
»Komm schon, Lash«, sagte Jeremy mit leiser Stimme und sah zu ihm hoch. »Das war vor langer Zeit.«
Lash machte einen drohenden Schritt auf ihn zu und sah auf den goldenen Engel herab, der ihm alles, was er liebte, zu nehmen drohte. Er hatte es in der Vergangenheit getan. Was sollte ihn davon abhalten, es noch einmal zu tun? »Seit du dieses Haus betreten hast, verhältst du dich merkwürdig. Wieso?«
Jeremy schluckte. »Wir sind nicht gerade in bestem Einvernehmen auseinander gegangen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich war mir nicht sicher, was ich zu erwarten hatte.«
Mit festem Blick sah er Lash an und gab sich alle Mühe, ihn zu überzeugen.
Lash sah ihm forschend ins Gesicht und versuchte, darin zu lesen. Jeremy hatte seine Pokermiene aufgesetzt. Verflucht nochmal! Er verbirgt etwas.
»Was verschweigst du mir?«
»Bitte, Lash. Das alles ist doch nicht mehr wichtig.« Naomis sanfte Hände berührten seinen angespannten Arm und drehten ihn um, so dass er sie ansah. »Hat er in der ganzen Zeit, in der du ihn gekannt hast, soweit du dich erinnern kannst, jemals versucht, dir etwas wegzunehmen?«
»Ja. Er hat dich sterben lassen. Er hätte dich retten können.«
»Das war was anderes. Seine Aufgabe war, mich hierher zu bringen. Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, hast zu mir gesagt, er sei dein Freund. Und wenn du dich mal erinnerst, wollte ich ihn mit einer Eisenstange erschlagen.«
Lash grinste. »Die guten alten Zeiten.«
Naomi sah ihn erwartungsvoll an.
Er seufzte. »Oh, schon gut. Nein, Jeremy hat mir nie irgendwas weggenommen.«
»Und?«
»Und er war immer ehrlich zu mir.«
»Also, weshalb solltest du jetzt davon ausgehen, dass sich irgendwas verändert hat?«
Was sie sagte, ergab zu viel Sinn und es gefiel ihm nicht. Erinnerungen hin oder her, er konnte einfach das Gefühl nicht loswerden, das Jeremy sie immer noch wollte. Er sah in Naomis hellblaue Augen, die von dichten Wimpern eingerahmt wurden. Sie war so wunderschön. Wie konnte er es irgendeinem Menschen oder Engel vorwerfen, wenn er sie begehrte?
»Du hast recht. Ich denke, ich bin einfach paranoid.«
Sie gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange und drehte sich dann zu Raphael um. »Ich erinnere mich an nichts von alldem, und die wenigen Erinnerungsbruchstücke, die in mir hochgekommen sind, haben immer von Lash gehandelt. Jetzt verstehe ich, wieso. Ich liebe ihn und nichts, niemand, kann jemals meine Liebe zu ihm auslöschen. Deshalb wollen wir uns trauen lassen, sobald er alles arrangieren kann.«
Raphaels Gesicht leuchtete auf. »Das sind wunderbare Neuigkeiten!«
»Du freust dich darüber?«, vergewisserte sich Lash.
»Selbstverständlich. Ich bin nicht mehr der, den Luzifer dir in deinen Erinnerungen gezeigt hat. Vielleicht war es notwendig, dich und Jeremiel zu verlieren, damit mir klar werden konnte, wie falsch ich mich damals verhalten habe. Kannst du mir für meine Vergangenheit vergeben? Für meine Unfähigkeit, dir ein guter Vater zu sein?«
Lash blickte in Raphaels flehende Augen. In all der Zeit, in der er ihn gekannt hatte, zumindest in der Zeit, an die er sich erinnern konnte, war Raphael immer an seiner Seite gewesen, um ihn zu führen und ihm zu helfen. Selbst, wenn er sein Bestes getan hatte, um Raphael von sich zu stoßen, hatte er ihn nie verlassen. Und jetzt wusste er, weshalb. Raphael tat sein Bestes, um sich mit ihm zu versöhnen und ein besserer Vater zu sein. »Ja… Vater.«
Raphaels Miene hellte sich auf. »Ihr macht mich stolz – ihr beide.«
Er stand auf und zog Lash in seine Arme. Überrascht sah Lash zu Naomi hinüber. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie sie ansah.
»Nimm ihn auch in den Arm«, formten ihre Lippen stumm.
Er nickte und legte eine Hand auf Raphaels Rücken, um ihn sanft an sich zu drücken. Er fühlte, wie sich Wärme in seinem Inneren ausbreitete und ein Frieden, den er lange nicht mehr gefühlt hatte.
»Ich werde mit dir mitkommen, wenn du bei Michael vorsprichst«, erklärte Raphael, als sie sich von einander lösten. »Endlich habe ich meine Familie wieder um mich. Das ist ein freudiger Anlass. Oder, Jeremiel?«
Jeremy erhob sich und kam auf Lash zu. Er streckte ihm eine Hand entgegen. »Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche euch beiden immerwährendes Glück.«
Lash sah auf seine Hand hinab und dann wieder in sein Gesicht. Das Einzige, was er in seinem Blick erkennen konnte, war Aufrichtigkeit. Er war wirklich glücklich für ihn.
Er ergriff Jeremys Hand und einen Moment lang hatte er das Gefühl, dass er vielleicht, nur vielleicht, seinen alten Freund wiedergefunden hatte.
Und dann sah er zu, wie Jeremy sich zu Naomi umdrehte. Er brachte es kaum fertig sie anzusehen, als er seine Glückwünsche murmelte und sie Schwägerin nannte.

5
»Bist du dir ganz sicher?« Naomi suchte die Umgebung des Bachs ab, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war und sah, wie sie und Lash die Brücke betraten. Ihr Herz pochte heftig vor Aufregung bei dem Gedanken daran, dass sie Belita und Chuy wiedersehen würde, obwohl sie wünschte, Lash würde sie das allein tun lassen.Wenn sie dabei erwischt wurde, wie sie Gabrielles Anordnungen missachtete, würde man es ihr vielleicht durchgehen lassen, weil sie neu war. Aber wenn Lash erwischt wurde, konnte er in Schwierigkeiten geraten, weil er ihr geholfen hatte.
»Ganz sicher.« Er ergriff ihre Hand, als sie zur Mitte der Brücke gingen. »Ich werde für dich Schmiere stehen.«
Naomi biss sich auf die Unterlippe. Nur Sekunden trennten sie noch vom Blick auf Belita – nach all diesen Wochen. Wieso fürchtete sie sich auf einmal davor, nach ihr zu sehen?
»Was ist los?«
Sie blickte in seine schönen haselnussbraunen Augen. Wie konnte sie mit ihm an ihrer Seite überhaupt Angst haben? Sie benahm sich lächerlich. »Gar nichts. Ich werde ganz schnell sein.«
Sie ging zu der Stelle, von der sie wusste, dass sie den besten Blick auf Belitas Haus haben würde. Ihre Hand fuhr über das vertraute Geländer. Wieder raste ihr Herz vor lauter Vorfreude.
Hör schon auf, sagte sie sich. Hör auf, eine große Sache daraus zu machen. Du hast schon oft nach Belita gesehen.
Sie holte tief Luft und beugte sich über das Geländer. Still lag das Wasser da. Es war, als sähe sie durch eine gleichmäßige Glasoberfläche. Einen Moment lang sah sie nichts als klares Wasser. Dann tauchte das vertraute kleine weiße Haus langsam auf.
Das Herz schlug ihr in der Brust. Irgendetwas war verkehrt. Etwas stimmte nicht.
Die einst sattgrüne und perfekt getrimmte Wiese war dicht besiedelt von kniehohem Unkraut. Die Blumenbeete, die Belita immer penibel gepflegt hatte, ihr Stolz und ihre Freude, waren überwuchert von Knöterich und mit Bierdosen zugemüllt.
Sie schloss schnell die Augen. Das konnte nicht Belitas Haus sein. Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. Mach dich nicht verrückt.
Sie blickte ganz offensichtlich in die verkehrte Richtung. Sie musste einfach besser aufpassen.
Als sie die Augen langsam öffnete, sah sie dasselbe kleine weiße Haus an derselben Stelle. Sie stöhnte.
Es ist Belitas Haus.
Zerbrochenes Glas lag auf der Vordertreppe und die Fliegengittertür schlug lose im Wind hin und her. Am schlimmsten war, dass jedes einzelne Fenster zerbrochen war.
Was war geschehen? Belita und Chuy würden nie zulassen, dass das Haus in einen solchen Zustand geriet. Es sei denn, das Haus stünde leer.
»Nein!«, schluchzte sie und warf sich gegen das Geländer, um sich so weit vorzulehnen, wie sie konnte. Das Haus war Belitas ganzer Stolz gewesen. Sie würde es nie verlassen. Ihr Vater war in diesem Haus aufgewachsen. Etwas musste geschehen sein – etwas so schreckliches, dass Belita keine andere Wahl geblieben war, als auszuziehen.
Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, als sie an das Eine dachte, das ihre halsstarrige Großmutter aus dem Haus zwingen konnte.
Nein! Sicher nicht! Belita war nicht tot. Das konnte auf keinen Fall geschehen sein. Belita hatte sich bester Gesundheit erfreut, als sie sie vor einigen Wochen gesehen hatte. Es musste etwas anderes sein. Das musste es einfach.
Panisch lief sie am Rand der Brücke entlang und versuchte, einen besseren Blick auf die Umgebung zu bekommen. Verzweifelt suchte sie nach einem Hinweis, irgendetwas, das erklärte, was mit Belita und Chuy geschehen war.
»Was ist los?« Lash folgte ihr dicht auf den Fersen.
»Belita ist weg.« Sie schluchzte.
Sie sah sich die anderen Häuser in der Nähe von Belitas an. Sie erweckten alle denselben gespenstischen, heruntergekommenen Anschein. Es sah aus, als sei das ganze Viertel verlassen. »Sie sind alle weg!«
»Was? Bist du sicher?« Er beugte sich über das Geländer und spähte ins Wasser.
»I-ich verstehe das nicht. Es sind nur ein paar Wochen vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Es sah alles aus wie immer. Es standen Autos am Straßenrand. Die Nachbarskinder haben Basketball gespielt. Alles sah genauso aus, wie damals, als ich von dort weggegangen bin.«
»Das ist ein paar Wochen her«, murmelte er.
»Ja. Ein ganzes Stadtviertel kann nicht einfach innerhalb weniger Wochen wegziehen, oder? Ich meine, sieh dir das Gras an. Es ist fast kniehoch!«
Er rieb sich die Nasenwurzel und biss die Zähne zusammen. »Ein paar Wochen«, wiederholte er.
»Wieso sagst du das immer wieder?«
Er stöhnte auf und schlug dann mit der Hand gegen das Brückengeländer. »Scheiße!«
»Was? Was ist denn?«
Er schritt auf der Brücke auf und ab, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und fluchte leise vor sich hin.
»Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas passieren würde«, murmelte er und vergrub das Gesicht in den Händen. »Dämlich, dämlich, dämlich!«
»Lash, bitte erklär’s mir. Du weißt doch irgendwas.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Als er nicht antwortete, packte sie ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Jetzt sag’s mir schon!«
Gequält sah er ihr in die Augen. »Es waren nur ein paar Wochen… für dich.«
Sie blinzelte verwirrt. »Für mich? Was meinst du, für mich?«
»Na ja, genauer gesagt für uns.« Er wandte das Gesicht ab, unfähig sie anzusehen. »Ich kann nicht glauben, dass ich es dir nicht gesagt habe.«
Sie legte eine Hand unter sein Kinn und drehte es zu sich hin. »Mir was nicht gesagt hast?«
Er sog scharf die Luft ein und hielt den Atem an, bevor er ihn heftig ausstieß. »Die Zeit vergeht hier anders als auf der Erde.«
»Was soll das heißen? Die Zeit vergeht anders? Wie anders?«
Ihr sank das Herz. Oh Gott! Vielleicht sind sie alle tot!
Lashs Gesicht verschwamm vor ihren Augen und sie fühlte, wie sie fiel.
»Naomi!«, rief er, als er sie auffing.
»Wie lange?« Ihre Stimme klang leise, ängstlich.
»Du hast einen Schock. Lass mich dich nachhause bringen. Es tut mir so leid, dass ich vergessen habe, es dir zu sagen. Ich kann es dir alles erklären und dann können wir herausfinden – «
»Nein.« Sie atmete tief ein und zwang sich, aufrecht zu stehen. Jetzt war nicht der Moment für Schwäche. Jetzt war der Moment gekommen, der Erzengel zu sein, der zu sein sie trainierte. Sie tat einen weiteren kräftigenden Atemzug und sagte: »Sag’s mir. Wie viel Zeit ist vergangen?«
»Ich habe nie wirklich auf die Zeit geachtet. Wir messen die Zeit hier nicht so wie auf der Erde. Ich würde sagen, etwa« – er schluckte und warf ihr einen besorgen Blick zu – »ein Jahr.«
»Ein Jahr! Ich bin seit einem Jahr weg?«
»Vielleicht weniger«, sagte er hastig.
Sie stieß den Atem aus. Sie sollte dankbar sein, dass es erst ein Jahr gewesen war. Sie drehte sich um und starrte auf Belitas Haus. Sie hatte vorgehabt, einen heimlichen Besuch zu wagen, wenn sie ihren ersten Auftrag erhielt. Sie hatte Belita eine Art Zeichen geben wollen, dass sie immer noch bei ihr war. Selbst wenn sie sie nicht hätte sehen können, wusste sie, dass Belita gewusst hätte, dass sie es war. Sie hatte sogar vorgehabt, einen Blick auf Chuy zu werfen, wohl wissend, dass er mittlerweile daran glaubte, dass Engel existierten. Jetzt waren sie fort.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Erzengel sind mächtig. Sie können so ziemlich alles tun, oder?«
»Alles würde ich nicht sagen, aber ja, sie haben mächtige Fähigkeiten. Wieso?«
»Ich kann sie finden.«
»Du wirst nicht dazu in der Lage sein, auf die Erde zu gehen, es sei denn, du hast einen Auftrag erhalten oder einer der Erzengel erteilt dir die Erlaubnis dazu.«
»Aber ichbin ein Erzengel.«
»Technisch gesehen schon, aber du bist noch in der Ausbildung. Du brauchst immer noch die Zustimmung von Michael oder Gabrielle, und die würden sie dir nie geben, außer es würde einem höheren Zweck dienen.«
Ihr Gesicht verfinsterte sich. Welchen Sinn hatte es, ein Erzengel mit besonderen Kräften zu sein, wenn man sie nicht einsetzen konnte? Was sollte sie jetzt tun? Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich dachte, der Himmel sollte ein Ort des Glücks sein.«
Er schloss sie in die Arme. »Naomi, bitte weine nicht.«
Sie konnte nichts dagegen tun. Sie wollte tapfer sein – der mächtige Erzengel sein, von dem alle erwarteten, dass sie es war. Sie konnte es nicht. Es war schwer, so unglaublich schwer einen Teil von ihr zurückzulassen, den Teil, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war: ihre Familie – Belita, Chuy, ihre Eltern. Solange sie sie hatte, fühlte sie sich, als ob sie alles schaffen konnte. Als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie das Gefühl gehabt, sie hätte einen Teil davon verloren. Und jetzt, wo Belita und Chuy fort waren, fühlte es sich an, als ob ein Loch in ihrer Brust klaffte.
Lash legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, so dass sich ihre Blicke trafen. »Ich nehme dich mit, um Belita zu finden.«
»Wie denn?«, schniefte sie. »Du weiß doch nicht, wo sie sind.«
»Ich habe einen Plan. Geh zurück nachhause. Wenn ich wiederkomme, habe ich die Erlaubnis. Du und ich müssen auf die Erde.«
Ihre Augen weiteten sich. »Ich will nicht, dass du irgendwas tust, was dich aus dem Himmel werfen kann. Ich kann dich nicht auch noch verlieren.« Sie wollte unbedingt ihre Familie finden, aber nicht auf seine Kosten.
»Es ist völlig gesetzmäßig. Ich versprech’s. Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Du musst einfach nur wissen, dass ich das für dich hinkriege. Vertraust du mir?«
Sie sah in sein herrliches Gesicht. Seine Augen sahen sie liebevoll an. Sie seufzte und Hoffnung regte sich in ihr. Mit Lash an ihrer Seite konnte sie alles schaffen.
»Ja.«


Lash marschierte einen ausgetretenen Pfad am Bach entlang, einen Pfad, den er über die Jahre schon hunderte Male genommen hatte. Ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich tue.

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