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Vor Dem Fall
L. G. Castillo
Gefallener Engel #3
Endlich wird Lash und Naomis weit zurückliegende Vergangenheit enthüllt. Sie decken eine Geschichte voller Leidenschaft, Neid und Betrug auf. Wird ihre Liebe im Licht dieser Enthüllungen stark genug sein, um sie weiterhin miteindander zu verbinden oder wird die Wahrheit über die Familie von zerbrochenen Engeln sie auseinanderreißen? Lash erinnerte sich an das, was Naomis Großmutter einst vor langer Zeit zu ihm sagte: ”Wo Liebe ist, da ist immer auch Licht.” Er behielt diese Worte im Herzen, denn sie bedeuteten, dass die Liebe zwischen ihm und Naomi vorherbestimmt war. Mit der Trauzeremonie hinter sich haben Lash und Naomi noch mehr Fragen zu ihrem vergangenen Leben, als Erinnerungen wach werden und ihnen klar wird, dass die eine Person, von der sie angenommen hatten, sie sei ihr wichtigster Verbündeter, sie von einaner ferngehalten hat – Erzengel Raphael. Als die anderen Engel schließlich das Geheimnis um ihre Vergangenheit enthüllen, decken sie eine Geschichte voller Leidenschaft, Neid, Betrug, Verlust und dem Abstieg in die Dunkelheit auf. Wird Liebe angesichts dieser Enthüllungen genug sein, um ihre Familie zusammenzuhalten?

L.G. Castillo
Vor dem Fall: Gefallener Engel 3

VOR DEM FALL
GEFALLENER ENGEL 3

L.G. CASTILLO

Übersetzt von LUISE PAWLING
“Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)”
Copyright © der Originalausgabe 2014 by L.G. Castillo.
Copyright © der deutschsprachigen 2020 by L.G. Castillo.
Alle Rechte vorbehalten.

BÜCHER VON L.G. CASTILLO

Gefallener Engel

Lash (Gefallener Engel 1) (https://smarturl.it/GefallenerEngel1)
Nach dem Fall (Gefallener Engel 2) (https://smarturl.it/GefallenerEngel2)
Vor dem Fall (Gefallener Engel 3) (https://smarturl.it/GefallenerEngel3)
Jeremy (Gefallener Engel 4) (https://smarturl.it/GefallenerEngel4)
Der goldene Engel (Gefallener Engel 5) (https://smarturl.it/GefallenerEngel5)

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1
Geräuschlos versteckte sich Naomi zwischen den wuchernden Büschen hinterm Haus ihrer Großmutter und achtete darauf, dass sie sich nicht die Arme zerkratzte.
Als sie das Knirschen von Kies hörte, hielt sie den Atem an. Jemand war in der Nähe ihres Verstecks.
Dann zog eine Hand sie an einem ihrer dicken Zöpfe.
»Autsch, Chuy! Verschwinde! Such dir dein eigenes Versteck.«
»Ach komm schon, Naomi«, entgegnete ihr Cousin. »Ich will nicht, dass Lalo mich zuerst findet.« Er streckte seinen dünnen Arm erneut aus, um sie an den Haaren zu ziehen.
Sie schlug seine Hand beiseite. »Das hast du davon, wenn du mit ihm um deine Luke-Skywalker-Puppe wettest.«
»Es ist keine Puppe. Es ist eine Actionfigur.«
»Ja klar.«
»Bitte, Naomi. Du bist kleiner als ich. Du kannst dir ein anderes Versteck suchen.«
Die siebenjährige Naomi musterte ihren Cousin Chuy verächtlich. Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, beim Versteck-Spielen mit seinem besten Freund Lalo Cruz und den anderen Kindern des Viertels zu schummeln. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie nett zu ihm sein sollte. Chuy hatte vor einigen Jahren seine Eltern verloren. Er lebte bei ihrer Großmutter, Belita. Jeden Sommer verbrachte Naomi zwei Wochen mit Belita und Chuy. Sie liebte es, obwohl Chuy sie ständig ärgerte.
Sie drehte sich um und spähte durch das Gebüsch.
»Ich weiß nicht.«
Chuy rieb seine Hand gegen Naomis Nacken und murmelte eine Beschwörungsformel: »Ich wünsche mir, dass Naomi verschwindet und sich ein neues Versteck sucht.«
»Lass das Chuy!« Sie schlug seine Hand beiseite. Seitdem er den Fleck Sommersprossen vor zwei Wochen beim Schwimmen entdeckt hatte, hatte er immer wieder daran gerieben und sich Dinge gewünscht. Er behauptete, dass der Fleck aussah wie die Zahl sieben und dass er also Glück bringen musste.
Eine rundliche braune Hand Griff ins Gebüsch und Lalo rief: »Du bist dran!«
»Mensch, Chuy! Jetzt guck, was du angerichtet hast.« Sie stapfte aus dem Gebüsch.
»Chuy, Naomi!«, ertönte Belitas Stimme in der Ferne. »Das Mittagessen ist fertig!«
»Ohhh, was gibt es denn?«, fragte Lalo, als sie alle zur Vorderseite des Hauses stürmten.
»Hühnchen-Mole«, erwiderte Chuy.
»Mein Lieblingsessen.«
»Das sagst du bei allem, was Belita kocht.«
»Weil es stimmt.«
»Du solltest Belita besser fragen, ob Lalo bei uns essen kann«, warf Naomi ein und rang nach Luft.
»Belita, kann Lalo bei uns Mittag essen?«, bat Chuy, als sie die Veranda an der Vorderseite des Hauses erreichten.
Belita stand auf der obersten Stufe und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Er isst doch jeden Tag bei uns Mittag.«
Sie sah Lalo über ihre pinkgetönten Brillengläser an. »Wundert sich deine Mutter nicht, wo du bleibst?«
»Nein, ich hab ihr gesagt, dass ich hier bin und dass du die beste Köchin in ganz Houston bist. Da hat sie ihre Chancla nach mir geworfen und angefangen, zu schreien. Ich glaube, sie ist wütend.«
Naomi kicherte bei der Vorstellung daran, wie der Flipflop seiner Mutter durch die Luft segelte. Sie wusste, dass es nur eine harmlose Geste gewesen war. Aber eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Die Kochkünste einer Frau beleidigte man nicht ungestraft.
»Ay, Dios mío.« Belita zog ein Geschirrtuch aus der Tasche ihrer Schürze und wischte sich die Stirn ab. »Ich muss nachher mit ihr sprechen und das wiedergutmachen. Keine Sorge, Lalo, ich bieg das schon wieder hin.«
»Danke, Belita«, sagte er und stürmte mit Chuy die Verandastufen hinauf.
»Naomi.« Belita legte ihr eine Hand auf die Schulter, als sie die letzte Stufe erreichte. »Würdest du die Bettwäsche von der Leine nehmen? Ich habe sie heute Morgen aufgehängt. Sie müsste jetzt trocken sein.«
»Aber bis ich fertig bin, haben Chuy und Lalo alles aufgegessen. Die Hälfte ist bestimmt jetzt schon weg.«
»Ich verspreche dir, dein Mittagessen wird auf dich warten, wenn du reinkommst. Es wird ja nicht lange dauern.«
»Na gut.« Naomi sprang von der Veranda und lief in den Hinterhof, wo Belita die Bettwäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie wusste schon, was sie sich dieses Jahr zu Weihnachten von ihren Eltern wünschen würde – einen Trockner für Belita.
Als sie um die Ecke bog, hörte sie, wie Belita rief: »Ay, hört doch auf so zu schlingen. Jetzt muss ich für Naomi und mich mehr machen.«
Naomi wurde langsamer. Es war nicht mehr nötig, sich zu beeilen.
Die weißen Laken flatterten im Wind. Sie legte die Hand an eines. Es war trocken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und und griff nach den Wäscheklammern.
Als sie das Laken gerade zusammenfalten wollte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich hinter dem anderen Laken ein Schatten bewegte.
»Ha ha, Chuy. Du kannst mir keinen Schreck einjagen. Ich weiß, dass du –«
Ihr blieb der Mund offen stehen, als eine Frau auf sie zuschwebte – die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Ihr dunkles Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern. Ihre Haut war glatt wie Porzellan. Sie trug ein feines, cremefarbenes Kleid mit einem Spitzenbesatz am Kragen. Das Kleid wallte um sie herum, als sie näher kam.
Sanfte, haselnussbraune Augen sahen sie an. So erschrocken Naomi auch war, es schien, als könnte die Frau nicht glauben, was sie sah. Langsam streckte sie die Hand aus.
»Naomi«, hauchte sie.
»Ahhh…«
»Tut mir leid.« Die Frau ließ ihre Hand sinken. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
Naomi holte tief Luft und reckte das Kinn in die Höhe. »Ich hab keine Angst.«
Die Frau klatschte erfreut in die Hände. »Du bist es. Endlich bist du hier. Ich habe so lange auf dich gewartet.«
Naomi sah sich suchend nach Chuy und Lalo um. Sie hatten diese Frau offenbar bezahlt, damit sie hierher kam und ihr einen Streich spielte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, woher sie das Geld haben sollten.
»Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?«
»Wir kannten einander vor langer Zeit. Ich heiße Rebecca.«
Naomi verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
»Natürlich nicht. Aber ich hoffe, eines Tages wirst du es.« Sie blickte sich um, als ob sie noch jemanden erwartete. »Es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss.«
»Okay.«
»Aber ich bin nicht sicher, dass du mir glauben wirst. Du bist noch jung, deshalb wirst du es vielleicht.«
»Was ist es?«
Die Frau ließ sich auf die Knie sinken und sah ihr in die Augen. »Ich bin ein Engel.«
Naomi sah sie misstrauisch an. »Das sind Sie?«
Sie nickte. »Ich will dir etwas zeigen. Hab keine Angst.«
Rebecca legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Hizahri.«
Naomi fragte sich, was das merkwürdige Wort bedeutete. Es klang nicht wie Englisch oder Spanisch. In ihren Schläfen breitete sich ein Gefühl der Taubheit aus, als ob sie Kopfschmerzen bekäme. Sie hatte eine Vision von einer jungen Frau mit langem dunklen Haar und hellblauen Augen. Es verschlug ihr den Atem. Sie sah aus, wie sie aussehen würde, wenn sie erwachsen wäre. Es war, als zeigte Rebecca ihr die Zukunft. Aber das konnte nicht sein. Die junge Frau sah aus, als sei sie eben aus dem Film Die zehn Gebote herausgetreten. Das waren die längsten vier Stunden gewesen, die sie jemals mit Belita bei einem Film hatte zubringen müssen.
Die Vision veränderte sich und wurde zu einem jungen Mann, der Rebecca ähnlich sah. Der Mann sah umwerfend gut aus – und stark. Als er sich der jungen Frau näherte, lächelte sie und nannte ihn »Lahash«.
Rebecca nahm die Hände weg und die Vision verschwand.
»Hey, ich will noch mehr sehen.« Der Mann, der Lahash hieß, kam ihr bekannt vor. Vielleicht hatte sie ihn in einem der Krippenspiele gesehen, zu denen Belita sie in den Feiertagen um Weihnachten gern schleppte. Das war der einzige Anlass, bei dem sie sich daran erinnern konnte, Männer in Roben gesehen zu haben, die lange Stäbe bei sich trugen.
»Tut mir leid. Mehr kann ich dir nicht zeigen.«
»Wieso nicht?«
»Sagen wir einfach, ich könnte bei meinem Boss in Schwierigkeiten geraten für das, was ich dir gezeigt habe.« Sie erhob sich und trat auf das Laken auf der Wäscheleine zu.
»Warte! Wann werde ich Sie wiedersehen?« Naomi strich sich den Pony aus der verschwitzten Stirn.
»Für eine ganze Weile nicht«, antwortete Rebecca und drehte sich um, um sie anzusehen. »Und ich fürchte, wenn ich zurückkehre, wirst du mich nicht sehen.«
»Wieso nicht?«
Sie rieb sich die Augen, als Rebeccas Körper vor ihr verblasste. »Weil die Menschen aufhören zu glauben, wenn sie erwachsen werden.«
»Das werde ich nicht. Bitte komm zurück und zeig mir mehr. Ich werde nicht aufhören zu glauben.«
Rebecca lächelte sie sanft an. »Und genau deshalb bist du etwas Besonderes, Naomi.«
Dann war sie verschwunden.


Naomi starrte Rebecca mit offenem Mund an. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie aufhörte zu sprechen. Jeder der Anwesenden im Zimmer – Jeremy, Lash, Uri, Rachel, Raphael, sogar Gabrielle – sahen Rebecca voll gespannter Erwartung an.
Als Rebecca begonnen hatte, zu erzählen, wie sie Raphael kennengelernt hatte, hatte Naomi nicht damit gerechnet, dass sie damit beginnen würde, wie sie mit Chuy und Lalo Verstecken gespielt hatte.
»Ich glaube…«, begann Naomi und durchbrach das Schweigen. »Ich erinnere mich daran. Ich dachte nicht, dass es wirklich passiert ist. Ich dachte, es sei ein Traum gewesen. Wie damals, als ich träumte, dass die Figuren aus der Sesamstraße bei uns im Viertel eine Parade abhielten.«
»Du hast von Bibo geträumt?« Lash grinste schief.
»Wer ist Bibo?«, fragte Uri im Flüsterton.
»Zeig ich dir später«, flüsterte Rachel zurück.
»Oh, hört sich ziemlich pervers an.«
Bei Uris Antwort verdrehte Naomi die Augen. »Das tut jetzt nichts zur Sache«, wandte sie sich an Lash. »Als ich klein war, fühlten sich meine Träume so echt an, dass ich dachte, sie wären wirklich. Als ich älter wurde, wusste ich es besser. Wie zum Beispiel, dass es unmöglich war, dass Bibo und Schnuffi mitten in der Nach vor meinem Haus standen. Ich habe immer angenommen, dass es ein Traum war.«
»Also dachtest du, als du Rebecca begegnet bist, das sei auch ein Traum gewesen«, sagte Gabrielle.
»Danke, ja. Ich meine, ich war noch ein Kind und dann… bin ich erwachsen geworden.« Sie sah wieder zu Rebecca und schluckte schwer. »Und ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe aufgehört zu glauben.«
Wann ist das passiert? Ist das wirklich, was passiert, wenn man erwachsen wird? Naomi war nachdenklich.
»Oh nein.« Sie wandte sich an Lash. »Was, wenn ich nie aufgehört hätte, zu glauben? Was, wenn ich daran festgehalten hätte? Vielleicht hätte ich mich an dich erinnert. Ich meine, kurz nachdem ich dich getroffen hatte, gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dich zu kennen. Da waren Bruchstücke von Erinnerungen, die in meinem Kopf aufgetaucht sind. Das war ganz merkwürdig. Ich wusste nicht, wo sie herkamen. Jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich ein Déjà-vu und habe es einfach immer verdrängt.«
»Du hast es nicht gewusst«, antwortete er und ergriff ihre Hand. »Hey, das habe ich auch nicht.«
»Naomi.« Rebecca kam durch das Zimmer auf sie zu. Lash rückte beiseite, um ihr Platz zu machen und sie setzte sich zwischen sie. »Ich habe diese Begebenheit nicht mit dir geteilt, damit du dich schlecht fühlst. Ich wollte, dass du verstehst, dass ich immer da war, gewartet und nach dir Ausschau gehalten habe.«
»Warum?«
»Das ist Teil unserer Familiengeschichte.«
»Unsere Geschichte ist nicht leicht zu erzählen«, warf Raphael ein. »Wir alle« – er machte eine Handbewegung, die alle im Raum miteinbezog – »haben das, was sich vor langer Zeit ereignet hat, unterschiedlich erlebt. Wenn wir alle teilen, woran wir uns erinnern, können wir leichter verstehen, was damals geschehen ist. Soll ich anfangen?«
»Okay«, antwortete Naomi und die anderen nickten.
»Alles begann, als Raguel – Verzeihung, ich meine Rachel – und ich zu einer Mission in die Stadt Ai geschickt wurden.«
»Grundgütiger«, sagte Rachel. »Das ist so lange her. An diese Zeit habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr zurückgedacht. Das war damals, als ich für Obadiah meinen Namen geändert habe.«
»Ich dachte, du hättest deinen Namen geändert, weil Jeremy anfing, dich Ragout-Spaghettisoße zu nennen«, warf Lash ein.
»So habe ich sie nicht genannt«, wehrte Jeremy ab. »Moment mal – hab ich doch.«
»Ein Klassiker.« Uri grinste und sie schlugen die Fäuste aneinander.
Rachel funkelte Uri an und er würgte ein Lachen hinunter, das er schnell in ein Hüsteln umwandelte.
»Tut mir leid, mein Schatz. Ich versuche nur, die Stimmung etwas aufzulockern. Ich denke nicht gern daran zurück, wie ich damals war… wie ich dich vor all diesen Jahren behandelt habe.«
»Ich weiß. Für mich ist das auch schwer, aber wir haben es überlebt.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, bevor sie sich wieder an Naomi wandte. »Also, wo war ich stehen geblieben?«
»Du hast von einem Mann gesprochen, der Obadiah hieß«, half Naomi ihr.
»Ach, richtig. Obadiah. Ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen berührte.«

2

1400 V. CHR
»Bist du sicher, Raphael?«, fragte Raguel.
Der Erzengel Raphael musterte die Ansammlung von Zelten am Fuße des Hügels. Tränen schimmerten in seinen Augen, als sein Blick über die Menschen glitt, die sich draußen vor den Toren der Stadt häuslich niedergelassen hatten. Sie waren Ausgestoßene, die von allen wegen einer Krankheit gemieden wurden, für die sie nichts konnten. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich – das war für die Menschen in Ai unwichtig. Sobald die Geschwüre am Körper auftauchten, wurde der betroffene Mensch aus dem Schutz der Stadt verstoßen. In ihren Augen hatte sich Gott von den von Krankheit Geplagten abgewandt, also sollten sie es auch tun.
Er wandte sich seiner zierlichen Begleiterin zu. »Ja. Ich bin sicher. Wir wurden ausgesandt, um ihnen Trost zu spenden. Wie sollen sie ohne eine Berührung Trost finden?«
Ihre braunen Augen weiteten sich bei seinen Worten. »Michael wäre böse, wenn er es herausfände.«
Raphael lächelte. »Dann werden wir es ihm nicht erzählen, einverstanden? Sie wurden aus ihren Häusern verbannt und von ihren Familien verstoßen. Sie haben genug gelitten.«
»Sie haben Angst. Diese Leute haben alle Anzeichen von Lepra und wurden für unrein erklärt.«
Raphael runzelte die Stirn. »Sie sind immer noch Seine Kinder. Sie verdienen allen Trost, den wir ihnen spenden können.« Er blickte auf sie herab. »Es mag uns nicht erlaubt sein, ihre Körper zu heilen, aber wir können ihre Seelen heilen. Schon die Berührung einer liebenden Hand kann ein gebrochenes Herz heilen.«
Sie sah auf ihre Hände hinab. »Ich habe noch nie einen Menschen berührt. Wie fühlt es sich an?«
»Warm, lebendig. Es ist anders als jedes andere Gefühl, das ich erlebt habe. Der Höchste hat ein wundervolles Wesen geschaffen.«
»Das Gefühl kenne ich.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne und an ihrem Gesichtsausdruck konnte Raphael ablesen, dass sie an Uriel dachte, den himmlischen Erzengel des Todes. Wenn Gabrielle ihm nicht von Raguels wachsenden Gefühlen für Uriel erzählt hätte, hätte er es nie erraten. Er war nicht jemand, dem solche Kleinigkeiten auffielen. Dankenswerterweise hatte Gabrielle Raguel mit ihm auf seine irdische Mission geschickt in der Hoffnung, dass sie so etwas Abstand zu Uriel bekäme. Obwohl Gutes tief im Herzen Uriels schlummerte, hatte er in letzter Zeit einen feinen Grat zwischen dem Guten und dem Unmoralischen beschritten, ähnlich wie Luzifer.
Luzifer war sein guter Freund und wurde von allen im Himmel geachtet. Allerdings hatte sich Raphael in letzter Zeit unwohl gefühlt angesichts einiger Vorschläge, die Luzifer ihm gegenüber geäußert hatte. Über die Jahre hatte sich Luzifer mit einigen Gefolgsleuten umringt – oder Freunden, wie er es vorzog sie zu nennen. Er sprach davon, dass Gott die Menschen mehr liebte als seine Engel. Er behauptete, dass die Engel über die Menschen herrschen sollten, anstatt ihnen zu dienen. Einmal hatte er sogar vorgeschlagen, dass die Engel die Menschen durch Vermehrung verdrängen sollten, indem sie sich menschliche Frauen nehmen sollten, um eine Masterrasse zu erschaffen, die besser wäre, als die von Gott geschaffene.
Raphael schauderte bei diesem Gedanken. Wenn Luzifer seine neidische Seite zeigte, sah Raphael, wie das Böse in seinem Freund Wurzeln schlug.
Er sah zu Raguel und bemerkte den sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht. Besorgt runzelte er die Stirn. Ihre Liebe zu Uriel würde sie auf die Probe stellen, wenn er den Pfad des Unmoralischen wählte. Wie die Menschen hatten auch alle Engel den freien Willen erhalten. Er sorgte sich um sie. Ihre einzige Rettung war die Tatsache, dass der eigennützige Uriel ihre Gefühle nicht zu erwidern schien – er war zu sehr von sich selbst eingenommen.
»Weißt du, wie man die Gestalt wechselt?«
Er ergriff ihre Hand, um ihr helfen zu können, wenn das nötig sein sollte. Es kam selten vor, dass Engel auf die Erde geschickt wurden. Meist war ihre Arbeit darauf begrenzt, vom Himmel aus über Menschen zu wachen. Wenn Engel ausgeschickt wurden, nahmen sie fast nie menschliche Gestalt an. Er selbst hatte das erst einmal getan… mit der Erlaubnis des Erzengels Michael.
»Nein. Ist es schwer?«
»Überhaupt nicht. Zuerst musst du deine Flügel in deinen Körper klappen.«
»Das geht?«
»Es gibt vieles, was wir tun können. Dir ist nicht bewusst, welche Gaben wir im Vergleich zu den Menschen haben.«
»Na ja, ich habe nie wirklich mit ihnen zu tun gehabt – es ist mein erster Auftrag auf der Erde«, erklärte sie, während sie ihre Schultern vor- und zurückbewegte. Ihre Stirn war gerunzelt, als sie versuchte, zu erspüren, wie sie ihre Flügel zusammenfalten konnte.
Er seufzte. »Leider ist es möglich, dass es nur eines von vielen weiteren Malen ist, die noch kommen. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der Engel vielleicht ein- oder zweimal in hundert Jahren zur Erde geschickt wurden. Das ist jetzt häufiger der Fall und ich fürchte, in der Zukunft wird man uns noch öfter brauchen.«
Aus irgendeinem Grund musste er an Luzifer denken, als er das sagte. Er schüttelte den Gedanken ab.
Raguel hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.
»Was ist los?«
»Nichts«, sagte sie.
Er ging um sie herum und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Es ist leichter, wenn du stillstehst. Jetzt streck deine Schultern durch und dreh die Schulterblätter nach innen, so, als ob du wolltest, dass sie einander berühren.«
»So?« Ihre kleiner Busen schob sich vor, als sie die Schultern nach hinten zog.
»Ja. Sehr gut. Spann deinen Rücken ein wenig an und deine Flügel sollten – «
Mit einem lauten Rauschen stolperte sie nach vorn. Ihre Flügel klappten in ihren Körper.
»Autsch! Tut das immer so weh?«
Er lachte leise und streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. »Du hast dich ein bisschen zu sehr verspannt. Mit ein wenig Übung wirst du dich daran gewöhnen.«
»Du sagst das, als wäre das hier nicht das letzte Mal, dass ich menschliche Gestalt annehmen muss.«
Vielleicht müssen wir das öfter, als wir denken, dachte er.
»Was kommt als nächstes?«
»Konzentriere dich auf den Kern deines Wesens. Genau hier.« Er legte zwei Finger auf die Mitte ihres Unterbauchs. »Jetzt drück nach außen, als ob du versuchen wolltest, meine Finger von deinem Körper wegzustoßen.«
»So… whoa! Da ist was Matschiges unter meinen Füßen.« Sie hob einen Fuß und starrte auf den Boden.
»Das ist Sand.«
»Fühlt sich alles Land so an?«, fragte sie, stellte ihren Fuß wieder auf den Boden und wackelte mit den Zehen.
»Nein, nur der Sand«, antwortete er und ging in Richtung der Zelte. »Komm. Dein erster Kontakt mit Menschen ist etwas, das du nie vergessen wirst.«

3
Als sie sich der Ansammlung von Zelten näherten, fiel Raphael eine junge Frau ins Auge, die sich damit abmühte, einen großen Topf über ein Feuer zu stellen. Ein kleiner Junge mit dichtem, dunklen Haar hing an ihrem Bein und erschwerte ihr die Arbeit. Sie trug ein langes Gewand, das zwar sauber war, aber kleine Risse aufwies, die eigentlich geflickt werden mussten. Sie trug einen Schleier, den sie um ihren Hals und über die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen hatte. Lebhafte braune Augen lugten über dem Schleier hervor. Als sie sich bewegte, rutschen die Ärmel ihres Gewandes nach oben und enthüllten die Geschwüre auf ihren Armen.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Raphael und eilte zu ihr, um ihr zu helfen.
»Danke, guter Mann.«
»Du kannst mich Raphael nennen«, sagte er und stellte den Topf über das Feuer.
»Ich bin Miriam. Bitte glaub nicht, dass ich für deine Hilfe nicht dankbar wäre, aber du musst sofort von hier weg.« Sie sah ihn und Raguel an. »Wisst ihr nicht, was das für ein Ort ist?«
Raphael warf einen Blick auf den kleinen Jungen. »Doch, das wissen wir. Wir sind hier, um euch zu helfen und euch Trost zu spenden.«
»Welchen Trost könnt ihr schon spenden? Man wird euch auch ausstoßen wie uns andere, wenn die Menschen von Ai euch hier sehen.«
»Wir bringen euch die Botschaft, Seine Botschaft, dass ihr geliebt werdet und nicht verlassen seid.«
Miriam sah ihn traurig an. »Das ist schwer zu glauben, wenn alle sich von uns abwenden und es keine Rolle spielt, dass wir nichts Böses getan haben.« Sie schlang die Arme um ihren Sohn.
Raphael streckte die Hand aus. Bei seiner Berührung keuchte sie auf. Ein Ausdruck des Friedens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Alle sind Seine Kinder. Hab Vertrauen.«
»Danke«, flüsterte sie.
»Und wer ist der stramme junge Mann, der sich an dich klammert?« Raphael lächelte dem kleinen Jungen zu. Große braune Augen lugten hinter Miriams Rock hervor.
»Das ist mein Sohn, Ethan.«
Rapahel hockte sich hin, so dass er sich auf einer Augenhöhe mit dem Jungen befand. »Hallo, Ethan.«
Ethan versteckte sein Gesicht erneut hinter dem Rock seiner Mutter.
»Ethan!«, rief die Frau aufgebracht. »Vergib meinem Sohn. Er ist sonst nicht so. Erst seitdem uns befohlen wurde, die Stadt zu verlassen, ist er Fremden gegenüber ängstlich.«
Raphael nickte. Bevor er und Raguel den Himmel verlassen hatten, hatte Michael ihnen gezeigt, wie die Kranken aus ihren Häusern getrieben und zu den Toren der Stadt hinausgejagt wurden.
»Meine Begleiterin und ich haben gehört, was geschehen ist. Wir sind für kurze Zeit hier, um euch alle Hilfe zu bringen, die wir geben können. Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das gibt es. Ich kann das Getreide schneller mahlen, wenn Ethan mir nicht am Rockzipfel hängt.«
»Ich glaube, ich kann einen Weg finden, ihn zu beschäftigen«, erwiderte er. Er sah hinab auf die Geschwüre an den Armen des Jungen. Er fragte sich, wo Ethans Vater war. Aber er fragte nicht laut danach. Er vermutete, dass der Vater seine Frau und seinen eigenen Sohn verstoßen hatte. Wie konnte jemand ein Mitglied seiner Familie verstoßen?
»Ethan, möchtest du eine Geschichte hören?« Er streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Es ist die Geschichte von einem Jungen, der von einem freundlichen, gutaussehenden Fremden geheilt wurde.«
Es war Raphael nur aufgetragen worden, den Ausgestoßenen Trost zu spenden. Es war schwer, die Menschen leiden zu sehen und nicht die Erlaubnis zu haben, sie zu heilen.
Ethan lugte vorsichtig hinter dem Rock seiner Mutter hervor. Seine Augen waren von dichten Wimpern umrahmt. Er blickte auf Raphaels ausgestreckte Hand. Dann sah er zu seiner Mutter auf.
»Na, geh schon. Ich bin gleich da drüben.« Sie deute auf zwei Mahlsteine in der Nähe. »Und wenn du brav bist, kannst du nachher beim Essen ein paar Datteln haben.«
Ethans Augen leuchteten auf. »Ja, Mutter.« Dann ergriff er Raphaels Hand.
»Danke«, wandte sich Miriam an Raphael und eilte zu den Steinen hinüber. »Ich werde nicht lange brauchen.«
»Raphael«, flüsterte Raguel, als sie zusah, wie die Frau sich über die Steine kauerte und einen von ihnen auf dem anderen bewegte. Sie rieb ihn vor und zurück erhielt so eine Art Pulver. »Was macht sie da?«
»Sie mahlt das Korn zu Mehl.« Raphael führte Ethan zur Vorderseite eines kleinen Zeltes. »Ist das eures?«, fragte er den Jungen.
Ethan nickte.
Raphael ließ sich nieder und zog den Jungen auf seinen Schoß. Er berührte den Arm des Jungen und zuckte zusammen beim Anblick der rundlichen Hände, die von der Krankheit gezeichnet waren. Der arme Junge. Jemand, der so schön und so unschuldig war wie dieser Kleine sollte nicht mit einem solchen Gebrechen leben müssen.
Der Junge sah ihn ehrfürchtig an und Raphaels Herz schmolz dahin. Er wusste, dass er Ethan heilen konnte. Er war vor kurzem zum Erzengel des Heilens befördert worden. Ihm war die Gabe des Heilens verliehen worden und er konnte die Krankheit mühelos von dem Jungen nehmen. Er war sich sicher, das ihm vergeben werden würde, wenn er es tat. Das Kind war zu klein, um so zu leiden.
»Halt still, Ethan«, sagte er und strich mit einer Hand über Ethans Arm.
»Was machst du da?«, fragte Raguel in überraschtem Flüsterton.
»Ich heile ihn.«
»Das verstößt gegen Michaels Anordnungen!«
Raphael hielt inne und sah zu Raguel auf. Sie hatte recht. So gern er Ethan auch helfen wollte, er würde bei Raguels erstem Auftrag kein gutes Beispiel abgeben.
Er seufzte und ließ die Hand sinken. »Ja. Wir sind hier, um Trost zu spenden und Worte des Glaubens zu den Menschen hier zu bringen.« Er tätschelte Ethans Arm.
»Ich bin mir nicht sicher, wie.« Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.
Raphael sah sich um und sah die Menschen vor den umliegenden Zelten. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, dessen Haut vom nachlassenden Licht der Sonne beschienen wurde. Neben ihm befand sich ein Wasserschlauch aus Ziegenleder. »Dort drüben.« Er deutete auf den alten Mann. »Biete ihm an, ihm etwas Wasser vom Bach zu holen. Der Schlauch sieht leer aus.«
Raphael sah Raguel interessiert zu. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er mit einem Menschen in Kontakt gekommen war. Sie hatten so viele Empfindungen, Leidenschaften, die oft ins Extrem gehen konnten: Glück, Kummer, Wut, Liebe. Sie waren erfüllt vom Strahlen einer Energie, die tief in ihrer Seele ruhte. Engel unterschieden sich nicht so sehr von Menschen. Aber er hatte das Gefühl, dass die Engel ihre Empfindungen in Schach hielten. Es schien fast, als hätten sie Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und nicht ganz vollkommen zu erscheinen.
Als er zum ersten Mal einen Menschen berührt hatte, hatte er sofort eine Verbindung gespürt. In diesem Augenblick war ihm auch klargeworden, dass Menschen ihn für ein göttliches Wesen hielten. Das Interessante daran war, dass er ihnen gegenüber dasselbe empfunden hatte. Er sehnte sich danach, anderen von seiner Erfahrung zu erzählen. Er war sich nicht sicher, ob die anderen Engel es verstehen würden. Selbst sein guter Freund Luzifer hielt es für Unsinn und riet ihm davon ab, den anderen Engeln davon zu erzählen.
»Guter Mann«, hörte Raphael Raguel zu dem alten Mann sagen. »Ich werde dir Wasser vom Bach holen.«
Der Alte hob den Kopf. Seine Lippen begannen zu zittern, als sich sein Blick auf Raguel richtete. »Rachel?«
Raguel sah verwirrt zu Raphael hinüber.
Er zuckte mit den Schultern.
»Mein Name ist Raguel«, wandte sie sich an den alten Mann.
»Du siehst aus wie Rachel.«
»Wer ist Rachel?«
»Es ist der Name meiner Tochter. Ich habe dich für sie gehalten. Ich dachte, der Herr hätte meine Gebete erhört und sie zu mir zurückgeschickt. Sie war zu jung, um von mir genommen zu werden.« Seine Hand zitterte, als er sie nach ihr ausstreckte.
»Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«
Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«
»Sie haben mich verfolgt, als ich mit Lepra geschlagen wurde. Die Soldaten befahlen mir, zu verschwinden und ich war bereit zu gehen. Ich habe mein Leben gelebt. Aber Rachel – sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie flehte die Soldaten an, mich zu verschonen und als sie es nicht taten, hielt sie einen der Soldaten fest und er… er hat sie mit seinem Schwert erschlagen.«
Raphael hörte, wie sie ein leises Schluchzen ausstieß. Er beobachtete sie, als sie ihre Hand dem alten Mann entgegenstreckte. Sie hielt inne und warf Raphael einen Blick zu.
Er nickte ermutigend. »Nur zu«, flüsterte er.
Sie schluckte und legte ihre makellose Hand auf seine faltige.
Raphael lächelte angesichts ihres Gesichtsausdrucks und wusste, dass sie es fühlte – die bedingungslose Liebe zu Seinem herrlichsten Geschöpf. Wie konnte man es nicht spüren? Er wusste, wenn die anderen Engel nur erst Kontakt mit Menschen hätten, wären sie in der Lage zu spüren, was er gefühlt hatte. Vielleicht war es das, was Luzifer brauchte. Wenn er unter ihnen wandelte und sie kennenlernte, wäre er sicher in der Lage, Liebe zu ihnen zu entwickeln. Vielleicht würde er nach seiner Rückkehr mit Michael darüber sprechen.
»Du erinnerst mich an sie«, fuhr der alte Mann fort. »Ragu – was hast du gesagt, wie war dein Name?«
»Du kannst mich Rachel nennen. Es wäre mir eine Ehre, den Namen einer so furchtlosen Frau zu tragen, wie deine Tochter es war.« Sie warf Raphael einen Blick zu. »Von jetzt an bin ich Rachel.«
Er nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, dass Raguel… Rachel dazu bereit war, so etwas zu tun. Sie liebte innig. Sie war ein junger Engel und in vielerlei Hinsicht unerfahren, wenn es darum ging wie Himmel und Erde funktionierten. Sie war das Gegenteil von Uriel, der nur an sich selbst dachte. Wenn Uriel wüsste, wie sehr er ihr am Herzen lag, könnte ihr das gefährlich werden. Raphael hoffte um Rachels willen, dass Uriel nie von ihren Gefühlen für ihn erfuhr.
»Also, Ethan. Wie sieht es aus mit der Geschichte?« Er wollte gerade beginnen, als er in einiger Entfernung den Lärm wütender Stimmen vernahm. Er sah in die Richtung, in der Ai lag und sah eine Schar von Leuten in der Nähe des Stadttors, die in ihre Richtung marschierten.
Raphael erhob sich und nahm Ethan auf den Arm. Der Mob, der sich ihnen näherte, schien aus Männern der Stadt zu bestehen. Die meisten von ihnen trugen bunte Umhänge über ihren Gewändern – etwas, das sich nur die Reichen leisten konnten. Er nutzte seine Gabe des verbesserten Sehvermögens und konnte die Angst hinter der Wut in ihren Blicken erkennen. Es war verständlich, dass sie Angst hatten, dass sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten könnte. Genau diese Angst war es, die auch den gottesfürchtigsten aller Männer gegen seinen Bruder wenden konnte.
Raphael sah zu den Menschen der Zeltgemeinschaft. Sie waren schon einmal aus ihrem Zuhause vertrieben worden. Wohin sonst sollten sie sich wenden?
Wenn man ihre Ängste zerstreuen konnte, war er sich sicher, dass die Menschen in Ai ihre Mitbürger wieder bei sich willkommen heißen würden. Alles, was er tun musste, war, sie zu beruhigen. Er traute sich zu, dass er das schaffen konnte. Er musste nur mit ihnen sprechen.
Dann fiel ihm mitten im Mob ein Schimmern auf – dann ein weiteres, und noch eines.
Die Menge teilte sich und machte den Soldaten Platz, deren Schwerter im Licht der Sonne glänzten. Raphael sank der Mut. Er wusste, dass die Soldaten der Vernunft kein Gehör schenken würden.
Er setzte Ethan ab. »Lauf in dein Zelt, Kleiner«, trug er ihm auf. »Bleib drinnen. Deine Mutter wird gleich zu dir kommen.« Dann, als Ethan im Zelt verschwunden war, rief er: »Miriam, komm schnell!«
»Was ist los?« Miriam wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Geh zu Ethan. Kommt nicht heraus, bis ich euch sage, dass es sicher ist.«
»Warum? Was ist – «
Miriams Hand flog an ihren Hals und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, keuchte sie.
Raphael berührte sie am Arm. »Miriam?«
»Die anderen! Wir müssen die anderen warnen.« Sie riss sich von Raphael los. Ihr Gewand bauschte sich hinter ihr, als sie zu den anderen Zelten stürzte. »Rahab, Bithia! Sie kommen! Die Soldaten kommen!«
Raphael wollte ihr nacheilen, als dutzende von Menschen durch die Zeltgemeinschaft zu stürzten und ihre Habseligkeiten an sich zu reißen begannen. Er sah zurück zum Zelt, in dem Ethan wartete. Er konnte ihn nicht allein lassen.
Voller Trauer sah er die Angst in den Gesichtern der Menschen. Viele von denen, die dazu in der Lage waren, liefen auf das Tal zu und verschwanden in den Hügeln. Die anderen, zumeist Frauen mit ihren Kindern und die, die alt oder sehr krank waren, blieben hilflos sitzen. Er hörte ihre flehenden Stimmen.
»Wir haben nichts getan.«
»Wohin sollen wir denn gehen?«
»Wir sind von Gott verlassen. Gott hat uns alle verlassen!«
Miriam bahnte sich ihren Weg durch die Menge und eilte auf den alten Mann zu. »Obadiah, komm mit mir.«
»Was ist los?«, fragte Rachel.
»Die Soldaten. Sie sind auf dem Weg hierher. Du und Raphael, ihr müsst verschwinden.«
Rachel sah Raphael mit einer Frage im Blick an, auf die er nicht antworten wollte. Wenn die Männer hier waren, um die Zeltgemeinschaft zu zerschlagen und mit ihr die Menschen, die in ihr lebten, gab es nichts, was sie tun konnten. Genauer gesagt, sie hatten nicht die Erlaubnis irgendetwas zu tun, was über das hinausging, das ihnen aufgetragen worden war. Sie konnten nicht eingreifen. Rachel wollte das Unvorstellbare verhindern.
Als er den Kopf schüttelte, schoss ihr Blick zu dem Zelt, in dem sich Ethan versteckte, und dann zu Obadiah. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.
»Nein«, formten ihre Lippen.
Ein lautes Ächzen erklang und eine verwitterte Hand streckte sich Rachel entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Rachel, gib mir meinen Stab«, bat Obadiah.
»Was hast du vor?« Sie keuchte auf, als er sein Gewicht verlagerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Sie eilte zur Zeltöffnung und ergriff einen langen, dunklen Stab. Dann eilte sie wieder zu ihm und reichte ihn ihm.
An seinen knochigen Armen traten die Muskeln hervor, als er sich hochzog. Als er stand, zitterten ihm die Beine. »Ich werde den Soldaten entgegengehen. Bring Ethan und die anderen von hier weg.«
Rachel blieb der Mund offen stehen, als sie zusah, wie Obadiah von ihr fortschlurfte.
»Nein, bitte tu das nicht«, bat sie und ging ihm nach.
Obadiah ging weiter. Seine Füße wirbelten Staub auf, als er durch den Sand schlurfte. »Beeil dich, Frau. Ich kann sie nur für kurze Zeit aufhalten.«
»Ich werde mit dir gehen«, beharrte Rachel.
Obadiah hielt an. Er sah zurück zu Raphael, dann wandte er sich ihr zu. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um sie an der Wange zu berühren. »Ich habe viele Jahre gelebt. Ich habe dem Allmächtigen treu gedient, selbst als ich aus meinem eigenen Haus verstoßen wurde… selbst, als meine Tochter erschlagen wurde. Jetzt, am letzten Tag meines Lebens, hat Er dich und deinen Begleiter geschickt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei meinem letzten Atemzug einen Engel berühren würde, eine Tochter des Allerhöchsten.«
Rachel schnappte nach Luft und blinzelte. »Ich… ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Obadiah schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Geh und hilf den anderen, Rachel. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder.«

4
»Rachel!«, rief Raphael ihr zu. »Hilf mir, Miriam zu finden!«
Rachel blickte von Raphael zu Obadiah, der auf die Soldaten zuschlurfte. Verwirrung malte sich auf ihren feinen Gesichtszügen ab. Sollte sie bei Obadiah bleiben, der entschlossen schien, den Soldaten geradewegs entgegenzugehen oder sollte sie seinen Befehlen gehorchen?
Traurige braune Augen erwiderten Raphaels Blick, als sie schließlich zu ihm kam. »Gib es nichts, was wir tun können?«
Er sah ihr tief in die Augen. Wie konnte er ihr erklären, dass, selbst, wenn sie es versuchten, es keine Garantie gab, dass die Soldaten der Vernunft Gehör schenken würden? Obwohl sie die Macht der Gedankenmanipulation hatten und sie gegen die Soldaten einsetzen konnten, gab ihnen das nicht das Recht, den freien Willen der Menschen zu beeinflussen. Dieser Überzeugung hingen alle Erzengel an. Zugegeben, es war schwer, sich daran zu halten, besonders in Zeiten wie diesen. Die Macht zu haben, die Leben anderer zu retten und nicht die Erlaubnis zu haben, es zu tun. Er musste ihnen nur den Vorschlag unterbreiten und die Menschen würden seiner Führung folgen. Rachel wusste um seine Gabe, aber ihre Seele war so rein, dass ihr nicht einmal der Gedanke kam, dass diese Möglichkeit bestehen könnte.
»Das Beste, was wir tun können, ist, den anderen zu helfen zu fliehen«, sagte er.
Rachels Lippen zitterten, als sie Obadiah weiter voranschreiten sah.
Mit jedem unsicheren Schritt, den Obadiah tat, wuchs Raphaels Bewunderung für den alten Mann. Obadiah, obwohl körperlich schwach, war geistig so stark, dass sein einziger Gedanke sich darum drehte, die anderen zu schützen – nicht darum, wie er der Gefahr aus dem Weg gehen konnte, in die er sich selbst begab, indem er sich den Soldaten näherte. Er musste wissen, dass sein Ende kurz bevor stand, und dennoch ging er weiter. Diese Art von Mut war es, die Raphael die Menschen nur umso mehr lieben ließ. Wenn nur Luzifer sehen könnte, was er sah.
Raphael legte Rachel eine Hand auf die Schulter. »Komm. Ich werde Ethan holen und du kannst losgehen und – «
Eine liebliche Stimme klang durch die Luft und erhob sich über das Stimmengewirr des wütenden Mobs und das Marschieren der Soldaten. Sie war so leise, dass Raphael sich fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte.
Er spähte zu der näher kommenden Menge. Die Soldaten hatten kurz vor Obadiah angehalten und lachten.
Ihr Anführer stand unbeweglich, sein Gesicht halb bedeckt von einem Bronzehelm und einem dichten schwarzen Bart. Über die Schultern hing ihm eine rote Toga, die von einer runden goldenen Brosche an seinem Hals zusammengehalten wurde. Die Toga wallte im Wind und strich sanft um seine muskulösen Oberschenkel.
Als der Anführer sein Schwert aus der Scheide zog, schoss eine kleine Gestalt durch die Horde der Soldaten. Einen Moment lang dachte Raphael, es handele sich um einen kleinen Jungen. Vielleicht war es der Sohn eines der Kranken, die in der Zeltgemeinschaft lebten. Dann nahm er die wallende hellblaue Robe wahr, die über den Boden schleifte und eine Staubwolke hinter der Gestalt aufwirbelte.
»Haltet ein, ich flehe euch an!«, rief die Frau. »Bitte haltet ein.«
Ihre zierliche Hand legte sich auf den massigen Bizeps des Soldaten. Gegen den gestählten Arm wirkte sie zerbrechlich.
»Aus dem Weg, Frau«, knurrte der Soldat und schob sie von sich.
Die Frau stolperte einige Schritte nach vorn und fiel vor Obadiahs Füßen zu Boden. Dunkles Haar bedeckte ihr Gesicht wie ein seidener Vorhang. Aus der Entfernung vernahm Raphael ihr Schluchzen. Ein Geräusch, das ein merkwürdiges Gefühl in ihm wachrief. Es war, als sei ein Seil an seine Brust gebunden, das ihn zu ihr hinzog. Erschrocken angesichts der Heftigkeit des ungewohnten Gefühls stemmte er die Füße gegen den Boden. Er wollte zu der beherzten Frau gehen und sie trösten, nachdem sie es gewagt hatte, sich allein einem Heer von Soldaten entgegenzustellen.
Er sah, wie Obadiah ihr die Hand entgegenstreckte. Die Sekunden verstrichen und Raphael fragte sich, was sie da tat, weil sie weiter zu Boden starrte. Einen Augenblick später richtete die Frau sich auf und ergriff Obadiahs Hand.
Und dann sah Raphael ihr Gesicht.
Tränenspuren zogen sich über ihre geröteten Wangen und ihre makellose Haut war von Schmutz bedeckt. Und dennoch war sie das schönste Wesen, Mensch oder Engel, das seine Augen je erblickt hatten.
Jede Bewegung, die sie machte, zog ihn in den Bann: die Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, so dass es ihr auf die zierlichen Schultern fiel; die Art, in der sich ihre roten Lippen bewegten, als sie Obadiah dankte; die Art, in der sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten, als sie ihn anlächelte, bevor sich Sorge in ihnen spiegelte, als sie in die Richtung der Zelte sah.
Als sie sich zur Gruppe der Soldaten umwandte, glättete die Frau ihre Gesichtszüge. In ihren haselnussbraunen Augen funkelte es entschlossen. Raphael taumelte nach hinten. Bei ihrem Anblick blieb ihm der Atem stehen. Es war nur ein kurzer Blick gewesen. Aber mehr brauchte es nicht, um sein Herz in Flammen zu setzen. Mit aller Macht kehrte das ungewohnte Gefühl zurück und schoss durch seine Adern. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Es war etwas, von dem er gehört hatte, dass Menschen es erlebten. Selten hatte er Engel von solchen Gefühlen erzählen hören.
Er warf einen kurzen Seitenblick auf Rachel und fragte sich, ob das die Gefühle waren, die sie vergeblich zu verbergen suchte, wenn sie Uriel sah. Er empfand neuen Respekt, weil sie es schaffte, sie für sich zu behalten und dann Trauer, weil sie das bereits seit einiger Zeit tat.
Er blickte zurück zu der Frau und fragte sich, was über ihn gekommen war, weil er solche Gefühle für sie hegte. Und einen Moment lang schämte er sich. Erlag er gerade der Versuchung? Begehrte er sie wegen ihrer körperlichen Schönheit?
Er war Schönheit schon zuvor begegnet. Gabrielle war wunderschön, wie es viele der Engel waren. Und dennoch hatte diese Frau etwas an sich, das ihn auf eine Weise faszinierte, wie es kein Engel je vermocht hatte.
Er schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, das war keine Wollust. Es war mehr… da war noch mehr.
»Du wirst das hier beenden, Baka«, wandte sich die Frau an den Anführer. »Du wirst deinen Männern befehlen, in die Stadt zurückzukehren.«
Baka nahm seinen Helm ab und starrte die Frau an. Sein braunes Gesicht blieb unbewegt. In diesem Moment wünschte Raphael, er könnte Bakas Gedanken lesen. Das war eine Fähigkeit, die kein Engel besaß, egal wie hoch er im Rang stand.
Bakas dunkle, durchdringende Augen sahen von der Frau zu Obadiah. Langsam verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln und er warf lachend den Kopf in den Nacken.
»Rebecca, nach all diesen Jahren schlägt dein Herz noch immer für die Schwachen«, sagte er. »Wann begreifst du endlich, dass es die Starken sind, die deine Aufmerksamkeit verdienen?«
Mit drei Schritten trat Baka vor sie und kniff sie in die Wange. Seine Hand war so groß, dass sie fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. »Du wirst lernen, wo dein angemessener Platz ist, Frau. Und ich werde derjenige sein, der es dir zeigt.«
Zorn loderte in Raphaela auf, als er sah, wie Bakas Finger ihren Griff verstärkten, als sie versuchte, sich von ihm loszuwinden. Sie wirkte wie eine zarte Wüstenblume, die jederzeit zertreten werden konnte, wenn es den Soldaten gefiel.
Ohne nachzudenken, machte Raphael einen Schritt nach vorn. Das Einzige, das ihn davon abhielt, den Soldaten körperlichen Schaden zuzufügen und damit die Menschen der Zeltgemeinschaft vermutlich noch mehr in Gefahr zu bringen, war der Klang von Rachels Stimme.
»Raphael, hier sind Ethan und Miriam. Raphael?«
Raphael blinzelte und Rachels besorgtes Gesicht tauchte in seinem Blickfeld auf. Er folgte ihrem Blick nach unten und ihm wurde bewusst, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren.
Was mache ich hier?
Langsam entspannte er seine Finger. Er konnte nicht glauben, was er beinahe getan hätte. Bei seinen Engelskräften hätte eine kleine Handbewegung ausgereicht, um den Befehlshaber Baka in die Luft zu schleudern. Und bei Gott, das war genau das, was er tun wollte. Er wollte den bedrohlichen Soldaten weit weg von Rebecca – so schnell wie möglich. Aber dann würde das die anderen Soldaten dazu bringen, sie alle anzugreifen – angefangen bei Rebecca.
Er wollte zu ihr gehen. Aber er konnte es nicht. Zu viele Menschen würden darunter leiden, wenn er es täte. Und dann würde er sich vor Michael für den Missbrauch seiner Kräfte rechtfertigen müssen und für die Toten, die es mit Sicherheit geben würde.
Er sah zu Rebecca und war überrascht, dass noch immer das Feuer in ihrem Blick loderte.
»Lass mich los«, fauchte sie.
Baka sah sie einen Moment lang böse an und ließ dann seine Hand sinken. »Stures Weibsbild. Wieso willst du sie schützen?«
»Sie sind krank. Sie brauchen Hilfe.«
»Sie sind schwach und die Götter haben sich von ihnen abgewandt. Und dieser alte Mann« – Baka warf einen Seitenblick auf Obadiah – »weshalb ist er dir wichtig?«
Sie stellte sich schützend vor Obadiah. »Ein alter Mann eben.«
Baka schnaubte.
»Er verdient es, seine letzten Tage in Frieden zu verbringen. Es ist nicht an dir, zu entscheiden, wann der Tag ist, an dem ein Mensch leben oder sterben soll.«
»Du irrst dich. Es ist an mir. Ich bin es leid, mit dir zu streiten. Du wirst dich entfernen. Sofort!«
»Mein Vater wird davon erfahren«, drohte sie.
Baka packte Rebecca am Arm und riss sie an sich. Er beugte sich zu ihr, so dass seine Nasenspitze die ihre fast berührte. »Dein Vater ist derjenige, der ihre Auslöschung befohlen hat.«
Raphael konnte sehen, wie Rebeccas wilde Entschlossenheit bei Bakas Worten ins Wanken geriet. Er sehnte sich nach ihr.
»Ich werde ihn umstimmen«, erklärte sie. »Ich weiß, dass ich das kann.«
Bakas Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Das Einzige, was ihn umstimmen wird, ist das Gefühl eines ledernen Geldbeutels an seiner Handfläche. Kannst du ihm das geben? Kannst du das?«
Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht ab und das Leuchten in ihren Augen erlosch.
»Ah, wie ich sehe, bist nicht gänzlich von der Liebe zu deinem Vater geblendet und kennst seine Schwächen. Geh jetzt in die Stadt zurück und ich werde dir und deinem Weiberherzen das Ganze hier nachsehen. Schließlich wirst du meine Verlobte sein, wenn ich deinem Vater meine Geldbörse in die Hand drücke.«
Etwas in Raphaels Innern zerriss bei Bakas Worten und ehe er sich zurückhalten konnte, entfuhr ihm ein Schrei. »Lasst die Leute hier in Frieden!«
Er ignorierte Rachels Aufkeuchen und schob ihre Hand beiseite, als er auf die Soldaten zuschritt. Eine Stimme in seinem Hinterkopf rief ihm zu, dass er das hier nicht tun sollte. Er sollte nicht eingreifen. Das hatte er selbst Rachel erst vor wenigen Augenblicken erklärt. Aber der Gedanke daran, wie der unnachgiebige Soldat Baka Rebeccas sanftes Wesen brechen und sie zu seiner Frau machen wollte, war zu viel für ihn.
»Bleib stehen!« Baka streckte Raphael sein Schwert entgegen.
Raphael hielt inne. Er hatte keine Angst vor den Verletzungen, die das Schwert ihm zufügen konnte, wenn Baka sich entschied, es einzusetzen. Es würde wehtun und er würde bluten, aber es würde ihn nicht töten. Er sorgte sich, dass Obadiah oder Rebecca unabsichtlich verletzt würden, wenn sich Baka zum Angriff entschloss. Sie standen zu dicht in seiner Nähe.
Als ob er seine Gedanken gelesen hätte, wandte sich Obadiah zu Raphael um und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln. Er ergriff Rebeccas Arm und führte sie mehrere Schritte von den Soldaten weg, so dass ein deutlich sichtbarer Pfad zwischen Raphael und Baka entstand.
Raphael hob die Hände, so dass die Handflächen nach oben zeigten.
»Ich trage keine Waffen bei mir«, sagte er und machte einen langsamen Schritt nach vorn. »Ich will dir nichts Böses.«
Bakas Augen verengten sich. »Stehen bleiben, habe ich gesagt! Wie kannst du es wagen, meinen Befehl zu missachten!«
Raphael schritt weiter auf ihn zu und hielt seinem Blick stand. Mit leiser, melodischer Stimme sagte er: »Ich hege nicht den Wunsch, dir Schaden zuzufügen. Ich komme in Frieden.«
Bakas Augen weiteten sich einen Moment lang. Er wirkte benommen. Schuldgefühle regten sich am Rand von Raphaels Bewusstsein. Er nutzte seine Engelsfähigkeit der Gedankenmanipulation, etwas, von der er nie geglaubt hätte, dass er es einmal einsetzen würde.
»Senke dein Schwert, Baka«, sagte er. »Du brauchst es nicht. Und deine Männer werden es auch nicht.«
Baka blinzelte und sah verwirrt auf sein Schwert. Dann, nach einem Moment des Zögerns, schob er es zurück in die Scheide.
»Senkt eure Waffen«, bellte Baka den Soldaten zu.
Ein Gemurmel kam in der Menge auf, die hinter den Soldaten stand. Die Soldaten wirkten verwirrt, während ihre Augen zwischen Raphael und ihrem Anführer hin- und herschossen.
»Ruhe!«, verlangte Baka. »Tut, was ich sage. Runter mit den Waffen.«
Raphael ging weiter vorwärts und sprach weiter mit der melodischen Stimme. Er war erstaunt, dass die Soldaten begannen, denselben benommen Gesichtsausdruck anzunehmen, als er weitersprach. Es war das erste Mal, dass er Gedankenmanipulation einsetzte und er hatte nicht gewusst, wie mächtig er war. Er sah zu Obadiah und Rebecca hinüber, als er an ihnen vorbeikam.
Obadiah lächelte ihn wissend an. Sein Blick war klar. Es schien, als ob die Gabe nur diejenigen beeinflusste, gegen die sie gerichtet war. Aber wie lange noch?
Dann richtete Raphael seinen Blick nach rechts neben Obadiah und seine Augen begegneten Rebeccas. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. Hitze wallte in seinem Körper auf. Schnell wandte er den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf Baka und seine Soldaten. Er musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihm lag.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Baka und sagte: »Es ist nicht nötig, irgendjemandem hier Schaden zuzufügen.«
»Ich habe den Befehl erhalten. Alles und jeder sollen ausgelöscht werden.« Bakas Gesicht verzerrte sich.
Wieder fühlte Raphael, wie Schuldgefühle in ihm aufstiegen, als er sah, wie sich das Gesicht des Mannes verzog, als er gegen Raphaels Einfluss auf seine Gedanken ankämpfte.
»Weshalb wurde der Befehl erteilt? Die Menschen hier leben seit einiger Zeit friedlich außerhalb der Stadttore.«
»Weil…« Bakas Gesicht verzerrte sich noch mehr. »Weil…«
Raphael legte Baka eine Hand auf die Schulter. Er ignorierte sein protestierendes Gewissen, beugte sich vor und flüsterte: »Verrate es mir.«
Mit glasigen Augen sah Baka ihn an. »Der Gouverneur fürchtet, dass ihre Anwesenheit Reisende davon abhalten wird, nach Ai zu kommen aus Angst, dass sie mit Krankheit geschlagen werden könnten. Sowohl die Truhen der Stadt, als auch seine eigenen, haben sich fast völlig geleert, seitdem sie sich vor den Stadttoren niedergelassen haben.«
Raphael stieß ein tiefes Knurren aus, als Hass durch seine Adern peitschte. Wie eigennützig kann ein Mensch sein? Sie töten ihre Nächsten um des Reichtums willen!
Er schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann erinnerte er sich daran, dass Baka erwähnt hatte, dass er dem Befehl von Rebeccas Vater unterstand. Ihr Vater war der Gouverneur. Er öffnete die Augen und warf ihr einen Blick zu. Eine Träne rann ihr über die Wange und sie biss sich auf die Unterlippe, um mutiger zu erscheinen. Wie konnten zwei Menschen so verschieden sein?
»Ich verstehe«, sagte Raphael. »Vielleicht können die Leute an einen anderen Ort gebracht werden. Irgendwo fernab der Augen von Reisenden und von den Bürgern der Stadt Ai.«
»Ich kenne einen Ort.«
Beim Klang von Rebeccas sanfter Stimme setzte Raphaels Herz einen Schlag aus. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, als sich ihr schönes Gesicht vor ihn schob.
»Vergib mir, mein Herr. Mein Name ist Rebecca. Ich bin die Tochter von Dathan und Sarah von Ai.«
»Rebecca«, flüsterte Raphael, unfähig irgendetwas anderes zu sagen. Sie war ihm so nahe. Er bemerkte die leichte Röte, die ihre makellose Haut überzog, als sie sprach.
»Hinter dem Hügel dort drüben.« Rebecca deutete in die Richtung, die den Stadttoren entgegengesetzt lag. »Dort gibt es einen Bach, der durch das Tal fließt. Ein paar Meilen stromabwärts gibt es eine offene Fläche, die hinter Felsen verborgen liegt. Das ist nicht einmal in der Nähe der Straße, die nach Ai führt.«
Raphael war bezaubert von der Art, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie sprach. Ihm fiel gar nicht auf, dass sie nichts weiter sagte, bis Obadiah sich räusperte.
Er riss seine Augen von ihr los und sah zurück zu Baka. »Wir haben also eine Lösung. Ihr werdet den Menschen helfen, zu diesem Ort zu ziehen.«
Baka sah auf Rebecca hinunter und einen Moment lang glaubte Raphael, seine Engelsfähigkeit habe aufgehört zu wirken. Bei Rebeccas Anblick verengten sich Bakas Augen kaum merklich. »Auf wessen Befehl hin?«
Raphael schob sich zwischen Baka und Rebecca. Er wusste, dass Baka und die anderen es sich anders überlegen konnten, sobald er fort wäre und dass er nicht in der Lage sein würde, sie aufzuhalten. Er wusste nicht einmal, ob es den Ausgestoßenen erlaubt sein würde, an dem neuen Ort zu bleiben, wenn er und Rebecca erst einmal nachhause zurückgekehrt wären.
Er konnte nur daran denken, wie Rebeccas Blick von einer Hoffnung erfüllt war, die ihr Gesicht leuchten ließ und ihm den Atem raubte. Und daran, dass er es gewesen war, der diesen Gesichtsausdruck bei ihr hervorgerufen hatte.
Er verbannte den Gedanken daran, dass Rebeccas Vater sie eines Tages mit Baka verheiraten würde, aus seinem Kopf. Heute konnte er die Dinge zum Guten wenden – selbst, wenn es nur für eine kurze Zeit währte.
»Auf meinen Befehl hin. Denn ich bin der Erzengel Raphael.«

5
Raphael saß unter dem Kirschbaum und starrte auf die Brücke jenseits der Gärten. Unter ihr hindurch floss der kleine Bach, der das Fenster zur Erde bildete. Seitdem die Brücke erbaut worden war, hatte er nie die Notwendigkeit verspürt, sie zu benutzen – bis jetzt. Seitdem er und Rachel zurückgekehrt waren, waren im Himmel erst wenige Stunden verstrichen. Er wusste, dass diese Stunden durch den Zeitunterschied mehrere Tage auf der Erde bedeuteten und fragte sich, wie es Rebecca ging.
Bakas Worte verfolgten ihn. Raphael hegte keinen Zweifel daran, dass der Soldat Rebecca zu seiner Frau machen würde. Und wie jeder andere Mann hätte Baka als ihr Ehemann das Recht, mit ihr zu machen, was er wollte. Ihm wurde übel beim Gedanken daran, wie Baka Rebecca berührte und seine ehelichen Rechte über sie ausübte.
Unfähig es noch länger zu ertragen, eilte Raphael zur Brücke und suchte nach ihr. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er sie fand. Was konnte er tun? Vielleicht könnte er vorgeben, ihr Schutzengel zu sein und sie vor Baka warnen. Es waren schon andere Engel zur Erde hinabgestiegen, um Menschen vor dem zu warnen, was auf sie zu kam.
Frustriert schlug Raphael mit der Faust aufs Geländer. Er konnte es nicht tun. Es war den Engeln verboten, sich Menschen zu zeigen, außer sie waren ausdrücklich dazu aufgefordert worden. Und er war ein Erzengel, ein Vorbild, dem alle anderen nacheifern sollten. Ihm sank das Herz, als er fühlte, wie die Verantwortung schwer auf seinen Schultern ruhte.
»Siehst du irgendwas Interessantes?«
Beim Klang der Stimme fuhr Raphael zusammen.
»Luzifer.« Er stieß den Atem aus.
Luzifer legte eine schlanke Hand aufs Geländer und beugte sich darüber. »Ah, ich verstehe«, sagte er und in seinen grauen Augen funkelte es. »Sie ist entzückend.«
»Es ist nicht das, was du denkst, Luzifer.«
Raphael eilte zurück zu den Gärten und hoffte, dass ihm sein Freund folgen würde. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass Luzifer von ihr erfuhr. In der Vergangenheit hatte er seine Gedanken unbekümmert mit seinem Freund geteilt. Sie hatten interessante Gespräche über Himmlische Politik geführt: über den freien Willen des Menschen und darüber, ob er tatsächlich existierte oder nicht. Aber in letzter Zeit war Luzifer unruhig geworden. Es schien, als sei es für Luzifer nicht genug, Erzengel zu sein. Er wollte mehr. Damit fühlte Raphael sich nicht wohl.
»Was glaubst du denn, was ich denke?«
Raphael biss die Zähne zusammen. Luzifer war nur scheinbar behutsam, denn er wusste, dass er nicht lügen würde.
»Ich habe nach den Ausgestoßenen gesehen. Sie wurden an einen anderen Ort gebracht. Ich habe mich nur um ihr Wohlergehen gesorgt.«
»Ich könnte schwören, dass du dich um das Wohl von einigen mehr gesorgt hast, als um das von anderen.«
»Sie alle liegen mir Herzen«, erwiderte er und die Worte kamen ihm ein wenig unwirsch über die Lippen. »So, wie es sein sollte.«
»Friede, mein Freund.« Luzifer hielt inne und pflückte im Garten eine weiße Rose. »Dein Mitgefühl für die Menschen ist groß.«
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Er verlor sich im Duft der Blüte, bevor er fortfuhr. »So groß, dass du Grenzen überschreiten würdest, um ihnen zu helfen. So, dass du vielleicht sogar deine Kräfte der Gedankenmanipulation nutzen würdest…«
Raphael spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
Luzifers Augen öffnete sich und er lachte. »Also das ist ein Gesichtsausdruck, den ich noch nie an dir gesehen habe.«
»Woher hast du es gewusst?« Seine Stimme war ein kaum hörbares Flüstern.
»Du bist nicht der Einzige, der der Brücke von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattet.«
»Hat es sonst irgendwer gesehen?«
»Nur Uriel.« Luzifer warf die Blüte beiseite und setzte sich auf eine Steinbank im Garten. »Keine Sorge. Du musst dich nicht beunruhigen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
Raphael ließ sich neben ihn sinken. »Nein. Ich sollte zu Michael gehen und um Vergebung bitten. Ich habe meine Gabe missbraucht und sollte bestraft werden.«
»Aber, aber, Raphael. Du und ich, wir wissen beide, dass wir unsere Kräfte gelegentlich zu… anderen Zwecken eingesetzt haben. Außerdem wurdest du ausgeschickt, um den Ausgestoßenen Trost zu spenden.«
»Ja, aber – «
»Ich würde sagen, du hast deine Mission ausgeführt. Baka und die anderen Soldaten dazu zu bringen, euch dabei zu helfen, alle Ausgestoßenen an einen neuen Ort zu bringen, der den Menschen von Ai verborgen ist, war genial. Obwohl ich persönlich mir nicht die Mühe gemacht hätte.«
Schuldgefühle stiegen in Raphael auf, als er darüber nachdachte, was er getan hatte. Er hatte Baka zum Sklaven jedes seiner Worte gemacht. Schlimmer noch, es hatte ihm tatsächlich gefallen, die Kontrolle über den bedrohlichen Heerführer zu haben. Baka hatte jedem Befehl gehorcht und ihn an seine Soldaten weitergegeben. Raphael war nicht einmal klar gewesen, was er da tat, bis er den fragenden Blick auf Rachels Gesicht wahrgenommen hatte. Sie hatte nicht danach gefragt, aber er wusste, dass sie sich fragte, weshalb er seine Kräfte hatte einsetzen können, um einzugreifen, wenn sie es nicht durfte. Seit ihrer Rückkehr hatte er sich wie ein Feigling von ihr ferngehalten in der Hoffnung, so ihrem anklagenden Blick auszuweichen. Die einzige Antwort, die er ihr geben konnte, war, dass es aus eigennützigen Gründen geschehen war. Das war genau das, was er jetzt war – ein eigennütziger Feigling.
»Es war falsch«, sagte er. »Und ich habe Rachels Respekt verloren.«
»Rachel?«
»Raguel. Sie hat ihren Namen um eines Menschen willen geändert, dem sie begegnet ist.«
»Raguel.« Luzifer spuckte aus. »Ich würde keinen einzigen Gedanken an einen Engel verschwenden, der es einem Menschen gestattet, ihm einen Namen zu geben wie einem Hund. Sie ist es nicht wert, dass du deine Zeit mit ihr verschwendest.«
Anspannung trat in Raphaels Blick. »Luzifer – «
»Aber, aber, mein Freund.« Luzifer tätschelte seinen Arm. »Lass uns nicht bei Dingen verweilen, die bereits geschehen sind. Ich habe einen Vorschlag für dich, der vielleicht dein Interesse weckt. Was, wenn ich dir sagte, dass du ein langes, glückliches Leben mit der Wüstenblume führen könntest, von der du so angetan bist?«
»Das ist nicht möglich.«
»Oh, aber das ist es allerdings.«
»Wie könnte es das sein… außer… sag mir, dass du nicht mit dem Gedanken spielst, auf der Erde zu leben.« Luzifer hatte schon zuvor davon gesprochen. Er hatte nie gedacht, dass Luzifer es tatsächlich tun würde – wenn man seine Verachtung den Menschen gegenüber bedachte.
»Das tue ich in der Tat, ebenso wie Uriel und einige andere, die sich trauen.«
»Was ist mit denen, die es nicht tun?« Das letzte Mal, als Raphael Luzifer gesehen hatte, hatte er mindestens zwanzig Seraphim und Schutzengel um sich gescharrt, die ihm folgten.
»Diese Narren. Sie fürchten Michaels Zorn.«
»Das sollten sie auch.«
Luzifer schnaubte. »Ich habe keine Angst vor ihm.«
Er erwiderte den Blick seines Freundes. Luzifer beneidete Michael. Er konnte es in seinen Augen erkennen.
»Sag mir, wozu soll es gut sein, wenn du auf die Erde gehst, um bei denen zu leben, die du so sehr verachtest?«
Luzifers Augen verengten sich, bevor sein Gesicht schnell einen neutralen Ausdruck annahm und seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Aus demselben Grund, aus dem du immer wieder über die Brücke nach deiner Wüstenblume Ausschau hältst.«
Raphael stutzte. »Du hast meine Sorge falsch verstanden. Ich bin nur sichergegangen, dass Rebecca nichts zugestoßen ist wegen meines Eingreifens.«
»Rebecca.«
Raphael erstarrte, als Luzifer ihren Namen aussprach und ihn mit der Zunge förmlich streichelte. Er sprang auf die Füße. »Es reicht, Luzifer.«
Luzifer lachte. »Entschuldige. Es ist nur – ich habe dich noch nie so fasziniert von jemandem gesehen. Geh nicht. Du hast meinen Vorschlag noch nicht gehört.«
»Ich habe genug gehört.«
»Raphael.« Luzifer trat auf ihn zu und versperrte ihm den Weg. »Wir werden bald fortgehen und ich möchte, dass du dich uns anschließt. Du musst dort nicht bleiben. Vielleicht gerade lange genug, um sicherzustellen, dass deine Wüstenblume vor einem gewissen Jemand in Sicherheit ist…«
Das Bild von Bakas Körper, der sich über Rebeccas aufrichtete, schoss durch seinen Kopf und er zuckte zusammen. Sein Herzschlag pochte ihm in den Ohren und verdrängte jeden rationalen Gedanken. Er gestattete sich selbst den Gedanken daran, noch einmal bei Rebecca zu sein. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht ein einziges Mal mit einem Menschen eine Beziehung eingehen wollen. Und jetzt stand er hier und erwog, sich von den Engeln loszusagen – für Rebecca.
»Vielleicht würde ein Tag nicht schaden.«
»Natürlich würde es das nicht«, entgegnete Luzifer.
»Ein Tag oder zwei wären genug, um die Dinge zwischen den Ausgestoßenen und den Menschen von Ai zu regeln.« Raphael sprach die Worte, aber tief im Innern wusste er, dass er die Zeit damit verbringen würde, einen Weg zu suchen, wie er Baka von Rebecca fernhalten konnte.
»Ein Tag… ein Monat auf der Erde bedeutet hier oben so gut wie keine Zeit«, redete Luzifer auf ihn ein. »Es wird wie ein Wimpernschlag vergehen. Niemand wird überhaupt wissen, dass du fort bist.«
Er sah Rebeccas liebliches Lächeln vor sich und das merkwürdige Gefühl, dass er gehabt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, stieg in ihm auf. Luzifer hatte recht. Niemand würde überhaupt wissen, dass er fort war.
»Wann gehen wir?«
»Ihr geht?«
Raphael fuhr beim Klang von Rachels Stimme herum. Einen Moment lang brachte ihn der verletzte Ausdruck auf ihrem Gesicht fast dazu, es sich anders zu überlegen.
Bevor er etwas erwidern konnte, trat Luzifer vor ihn. »Wie ich höre, hast du einen neuen Namen. Rachel, nicht wahr?«
Sie blinzelte, verwirrt, dass Luzifer ihr Beachtung schenkte. »Ich… ähm… ja.« Ihre Augen fuhren fragend zwischen ihm und Raphael hin und her.
»Das ist… reizend. Ich bin mir sehr sicher, dass Uriel das auch so sehen würde. Meinst du nicht, Raphael? Schade, dass er bald mit uns fortgehen wird, um auf der Erde zu leben.«
Sie beugte sich zur Seite und versuchte, Raphael anzusehen. »Uriel geht auch? Er wird doch wiederkommen, oder?«
»Es ist noch nicht zu spät«, antwortete Luzifer und ergriff sie am Arm, um sie von Raphael fortzuführen. »Uriel ist im Saal der Gaben. Wenn du dich beeilst, erwischst du ihn vielleicht noch.« Er setzte einen traurigen Gesichtsausdruck auf. »Das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, um ihm zu sagen… du weißt schon.«
»Er kann nicht fortgehen«, flüsterte Rachel.
»Vielleicht kannst du ihn davon überzeugen.«
Rachel nickte und eilte mit wehendem Gewand davon.
Raphael schluckte schwer an dem Klumpen, der sich in seiner Kehle bildete, als er zusah, wie die kleine Gestalt verschwand. Wie konnte Luzifer so mit ihren Gefühlen spielen? Er wusste, dass es ausgeschlossen war, dass Uriel blieb und dass er sie mit einem gebrochenem Herzen zurücklassen würde. Trotzdem war da ein Teil von ihm, der dankbar war, dass Luzifer sie abgelenkt hatte. Er schämte sich.


Rachel hetzte durch die Korridore zum Saal der Gaben. Das Geräusch ihrer Füße hallte auf dem Marmorboden und in den Fluren wider.
Er kann nicht fortgehen. Er weiß es nicht.
Rachels Gedanken an Uriel kreisten rasend schnell in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, was es ihm bedeuten würde. Wäre er jemals in der Lage zurückzukehren, wenn er erst einmal fort war? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendein anderer Engel je fortgegangen war, um auf der Erde zu leben.
»Hi, Raguel. Wie ich hörte, hast du deinen Namen…«
»Tut mir leid!«, rief Rachel, als sie an einem Engel mit dem Namen Marion vorbeieilte. »Ich kann jetzt nicht stehenbleiben, um mich zu unterhalten.« Der Gang war voller Engel. Sie alle sprachen im Flüsterton über Luzifer und Uriel. Die Nachricht von ihrer Abreise hatte sich schnell herumgesprochen.
Sie konnte ihre Blicke auf sich fühlen, als sie an ihnen vorbeieilte. Es war ihr egal. Zu jeder anderen Zeit hätte sie es vermutlich beschämend gefunden, dass sie von ihren Gefühlen für Uriel wussten. Jetzt konnte sie nur daran denken, zu ihm zu gelangen und ihn zum Bleiben zu überreden.
Als sie den Saal der Gaben erreichte, erstarrte ihre Hand auf der Türklinke, als ein tiefes, kehliges Lachen sich in Uriels Gelächter mischte. Jemand war bei ihm.
Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Uriel liebte es, mit anderen Engeln zu flirten. Das wussten alle. Selbst, wenn er mit ihr flirtete, wusste sie, dass es einfach ein Teil von ihm war und nichts weiter. Trotz dieses Wissens hatte sie nicht verhindern können, dass sie sich in ihn verliebte und sich mehr wünschte.
Er war anders als alle, die sie kannte: Raphael, Luzifer, Michael. Sie waren alle so ernst. Uriel hingegen war lustig und sorgenfrei. Er liebe das Leben.
Es gab nicht viele Engel, die ihn so kannten, wie sie es tat. Während einiger von ihren vielen Spaziergängen durch die Gärten wurde Uriels schönes Gesicht manchmal ernst und er teilte seine tiefsten Gedanken mit ihr. Er erzählte ihr dann, dass er sich manchmal wünschte, er wäre nicht der Erzengel des Todes. Er liebte die Menschen und die Freiheit, die sie hatten ihr Leben zu leben und er hasste es, ihnen das wegnehmen zu müssen. Er hatte ihr erzählt, dass niemand sonst wusste, wie schwer seine Rolle als Engel auf seinen Schultern lastete. Das war etwas nur zwischen ihnen beiden gewesen.
Sie konnte nachvollziehen, dass er versucht war, seine Stelle im Himmel aufzugeben, um bei denen zu leben, die er beneidete.
Sie dachte an das letzte Mal, als sie sich unterhalten hatten, bevor sie mit Raphael aufgebrochen war.
»Weißt du, Luzifer sagt, die Engel sollten mehr Freiheiten haben. Wir sollten nicht nur damit beschäftigt sein, die ganze Zeit den Menschen zu dienen.«
»Das glaubst du doch nicht etwa. Oder?«
»Na ja, nein… nicht wirklich.«
»An Luzifer ist etwas Merkwürdiges. Ich weiß nicht, was genau es ist, aber ich traue ihm nicht.«
»Raphael scheint ihn gern zu haben.«
Sie seufzte. »Ja, das tut er. Es ist nur… ach, ich weiß auch nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn um ihn geht. Er nimmt das Beste von dir weg, wenn du in seiner Nähe bist, weißt du.«
Uriel hob eine Braue. »Was meinst du damit?«
»Na ja, je länger du dich in seiner Nähe aufhältst, desto unglücklicher scheinst du zu sein.«
»Hmmm… Vielleicht bin ich tief im Innern schlecht und Luzifer hilft mir, das zu erkennen.«
»Du bist nicht schlecht.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ich glaube, Luzifer ist es.«
Uriel schüttelte den Kopf. »Wenn du mein wahres Ich kenne würdest, würdest du das nicht sagen.«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich sage es, weil ich dein wahres Ich tatsächlich kenne. Dein Herz ist rein, Uriel. Du bist gut. Nur, wenn du bei ihm bist, saugt das alles Gute aus dir heraus. Es ist, als könnte da, wo das Böse ist, nichts Gutes bestehen.«
»Willst du damit sagen, Luzifer sei böse? Er ist ein Erzengel.«
»Ich… ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du anders bist, wenn du mit ihm zusammen warst.«
Uriel seufzte. »Oder vielleicht zeigt sich mein wahres Ich, wenn ich bei ihm bin.«
Rachel schüttelte den Kopf bei der Erinnerung und drückte die Klinke herunter.
Schwungvoll öffnete sie die Tür. Und dort, in der Mitte des Raumes, wo Teppiche und Läufer auf dem Marmorboden lagen, saß ein Engel Uriel gegenüber. Ihr langes Haar floss ihr in seidigen Wellen über den Rücken.
Als Rachel den Saal betrat, sah Uriel in ihre Richtung und sein Gesicht leuchtete auf. »Raguel! Oder sollte ich sagen: Rachel? Du kommst genau richtig. Komm herein und hilf mir, Gabrielle davon zu überzeugen, mit mir auf die Erde zu ziehen.«
Gabrielle drehte sich um und lächelte Rachel warm an. »Schon zurück? Ich dachte, du und Raphael würdet viel länger brauchen.«
»Die Pläne haben sich geändert.« Rachel wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie wollte nicht, dass Raphael in Schwierigkeiten geriet, weil er seine Engelsfähigkeiten auf eine solche Art eingesetzt hatte. Es war allgemein bekannt, dass Gabrielle Raphael gern hatte, obwohl sie versuchte, es zu verbergen. Wie mit ihren eigenen Gefühlen für Uriel schien es, dass jeder Bescheid wusste – abgesehen von der Person, der ihre Zuneigung galt.
»Die Menschen haben ihre Meinung geändert«, erklärte Rachel. »Sie haben ihr Mitleid für die Ausgestoßenen entdeckt.«
»Da siehst du es, Gabrielle. Die Menschen sind ganz anständig. Komm mit mir und Luzifer. Du weißt doch, dass du es willst.« Er grinste und zeigte seine Grübchen.
»Dann stimmt es also«, sagte Rachel und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Du gehst mit Luzifer und Raphael fort.«
»Raphael?« Der sorgenfreie Ausdruck verschwand von Gabrielles Gesicht.
Rachel sah sie überrascht an. »Ich dachte, du wüsstest es.«
»Was glaubst du denn, was ich versucht habe, dir zu erklären, Gabrielle?«, warf Uriel ein. »Wir gehen runter auf die Erde.«
»Ich dachte, du machst Witze.« Gabrielle stand auf und ging auf die Tür zu. »Das ist nicht richtig.«
»Wo liegt denn das Problem?« Uriel sprang auf die Füße. »Oder ist es Raphael, der… oh, ich verstehe«, sagte er und in seinen blauen Augen funkelte es.
Eine leichte Röte hatte sich über Gabrielles makelloses Gesicht gelegt. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Na klar.« Uriel wandte sich zu Rachel um. »Dann kommt Raphael also mit uns mit?«
»Ich glaube schon. Ich war gerade in den Gärten und Luzifer sagt, sie werden sich bald auf den Weg machen. Und ich wollte – «
»Siehst du, da hast du es«, unterbrach Uriel sie. »Selbst Raphael hält das Ganze für eine gute Idee.«
Einen Moment lang begegnete Rachel Gabrielles Blick. Die grünen Augen des blonden Engels schienen ihren Blick festzuhalten. Sie konnte Mitleid in ihnen erkennen. Es war nicht das erste Mal, dass Uriel so tat, als sei sie gar nicht anwesend. Einen Augenblick lang erkannte Rachel neben dem Mitleid einen Ausdruck des Verurteilens in den grünen Augen.
Sie versteht es nicht, dachte Rachel. Sie kennt Uriel nicht so, wie ich es tue.
»Hat er gesagt, weshalb er geht?«, fragte Gabrielle sie.
Sie zögerte mit der Antwort, als das Bild von Rebecca vor ihr aufstieg. Sie schluckte. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist eine nette Überraschung«, sagte Uriel. »Ich hätte nicht geglaubt, dass der staubige, alte Raphael Interesse hätte.«
»Das ergibt keinen Sinn. Rachel, sag mir genau, was geschehen ist, als ihr auf der Erde wart. Was hat Raphael gemacht?«
»Das kann ich dir sagen.«
Beim Klang von Raphaels tiefer Stimme drehte Rachel sich um. Freundliche Augen blickten sie an. »Rachel, ich muss mich bei dir entschuldigen. Für das, was geschehen ist, als wir auf unserer Mission waren.«
»Hat das irgendwas damit zu tun, weshalb du uns verlässt… mit Luzifer?«, fragte Gabrielle. Ihre Stimme klang gepresst.
»Ja.«
Die Spannung, die im Raum stand, war förmlich spürbar.
»Ah, das ist mein Stichwort – ich muss los«, sagte Uriel und schritt auf die Tür zu. »Rachel?«
Rachel drehte sich zu Uriel um und fühlte, wie sie in seinen blauen Augen ertrank. Alles, was sie ihm hatte sagen wollen, blieb ihr in der Kehle stecken. Sie wollte ihm sagen, dass er bleiben sollte. Dass er mehr in ihr sehen sollte, als bloß eine Freundin. Dass sie sein wahres Ich sah und ihn liebte. All das war in ihrem Innern gefangen und fürchtete sich, ans Tageslicht zu kommen, und sie wusste nicht weshalb.
»Ja?«, flüsterte sie schließlich.
»Danke für… alles. Ich werde unsere kleinen Gespräche in den Gärten vermissen.«
»Ich… ich…« Es brach ihr das Herz. Wenn sie ihm sagte, was sie empfand und er trotzdem ging, würde sie das nicht ertragen.
»Ich werde sie auch vermissen«, stolperten die Worte schließlich heraus.
Sie konnte seinen hauchzarten Kuss noch auf ihrer Stirn spüren, nachdem er den Raum schon verlassen hatte.
Ein weißes Rauschen erfüllte ihre Ohren, durch das wie von Ferne Raphael und Gabrielles Stimmen klangen. Sie konnte Raphaels Berührung kaum spüren, als er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie um Vergebung bat. Sie nickte. Ihr Kopf fühlte sich tonnenschwer an. Sie konnte nicht einmal hören, weshalb er sie um Vergebung bat. Alles, was sie hören konnte, war ihr Herzschlag und sie fragte sich verwundert, wie es einfach weiterschlagen konnte.
Raphael fuhr fort zu sprechen und sie bemühte sich, sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Seine Gesichtszüge verschwammen hinter einem wabernden Nebel. Da war Traurigkeit in seiner Stimme und als sie die Worte »Ausgestoßene« und »Soldaten« hörte, wurde ihr bewusst, dass er Gabrielle erzählte, was er vor Ai getan hatte. Dann veränderte sich seine Stimme, als der Name »Rebecca« fiel. Der Tonfall in seiner Stimme war unmissverständlich.
Dann hallte Gabrielles Stimme im Saal wider und ließ ihren Brustkorb vibrieren. Die Worte »Tu das nicht« und »Das darfst du nicht« donnerten durch die Luft.
Durch den Schreck löste sich der Nebelvorhang vor Rachels Augen und sie sah Gabrielle an. Ihr normalerweise ruhiges und gelassenes Gesicht spiegelte genau die dumpfe Taubheit wider, die sich in Rachels Brust ausgebreitet hatte.
»Ich kann dich nicht bitten, meinen Standpunkt dazu zu verstehen, Gabrielle«, erklärte Raphael.
»Bist du hier nicht glücklich, Raphael?«
»Gabrielle, du machst dir zu viele Gedanken. Ich gehe nur für einen Tag. Und dazu nur einen irdischen Tag… vielleicht zwei, aber mehr als das nicht. Das ist das Geringste, was ich tun kann, um die Probleme zu beheben, die möglicherweise durch mein Eingreifen entstanden sind.«
»Bist du sicher, dass das alles ist?« Gabrielles grüne Augen hielten seinen Blick unbeirrt fest.
Das erregte Rachels Aufmerksamkeit. Die Worte hingen in der Luft – und ebenso Raphaels Zögern, auf die Fragen zu antworten. Raphael hatte noch nie nach Worten suchen müssen.
»Ja«, erklärte er schließlich. »Darauf hast du mein Wort. Ich werde sofort zurückkommen. Ein irdischer Tag ist hier oben im Himmel nur ein Herzschlag.«
»Rachel?«
Rachel blinzelte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Raphael.
»Ich werde alles tun, um Uriel zu überzeugen zurückzukommen. Das verspreche ich.«
Einen Moment lang herrschte Stille, als er den Raum verlassen hatte. Gabrielle stand neben ihr und starrte auf die geschlossene Tür.
»Sie werden nicht zurückkommen, oder?«, krächzte Rachel.
Langsam drehte sich Gabrielle zu Rachel um. Über ihr sanftes Gesicht legte sich eine Maske der Gleichgültigkeit. In der ganzen Zeit, seit der Rachel sie kannte, hatte Gabrielle noch nie ausgesehen, wie sie es in diesem Moment tat. Ihre zuvor lebhaften grünen Augen schienen jetzt leer zu sein.
»Nein, das werden sie nicht.«

6
Raphael lehnte sich gegen den Türrahmen und sah zu, wie Rebecca ihren vierjährigen Sohn Jeremiel ins Bett brachte. Es war ein Ritual, das er seit der Geburt seines Sohnes jeden Abend genoss. In Momenten wie diesen, wenn die Sonne tief am Himmel stand und es zu dämmern begann und die Schatten um sie herum schützend näher zu rücken schienen, wurde ihm bewusst, was für ein Glück er hatte, weil er sie beide hatte. Niemals, auch in seinen wildesten Träumen nicht, hätte er geglaubt, dass er so glücklich sein könnte.
»Erzähl mir mehr.« Jeremiels rosa Lippen verzogen sich zu einem weiten »O«, als er gähnte. Saphirblaue Augen sahen unter geschwungenen Wimpern hervor, als er sich bemühte, sie offenzuhalten.
Er sah zu, wie seine Frau, Rebecca, ihrem Sohn das dichte, blonde Haar glattstrich. Seine Frau. Selbst nach vier Jahren des Zusammenlebens mit ihr erschauerte er noch vor Aufregung bei dem Gedanken daran, dass er jemanden so innig lieben konnte. So sehr, dass er, als er vor all diesen Jahren auf die Erde gekommen war, es nicht fertiggebracht hatte, sie zum zweiten Mal zu verlassen. Er hatte sie kennengelernt und kannte die Reinheit und Unschuld in ihrem Herzen. Sie war wunderschön. Nicht nur die feinen Züge ihres makellosen Gesichts, sondern ihr Herz und ihre Seele – sie kannten nichts Böses. Die Vorstellung, dass Baka sie hätte nehmen und besitzen können war undenkbar.
Auf dem Tisch begann eine Kerze in der zunehmenden Dunkelheit zu flackern und ließ Schatten über Jeremiels Engelsgesicht tanzen. Als Rebecca die Gewissheit gehabt hatte, dass sie schwanger war, hatten sie beide sich Sorgen darüber gemacht, was für ein Kind sie zur Welt bringen würde. Raphael war besorgt gewesen, dass die Folgen seines Ungehorsams ihn einholen würden und das Kind darunter zu leiden hätte. Obwohl Rebecca nie ein Wort darüber verlor, wusste er, dass auch sie sich sorgte. Als ihm dann ein winziges Bündel in die Arme gelegt worden war, hatte er vor Freude über die Vollkommenheit, die er in den Armen hielt, geweint.
»Das reicht für heute, Jeremiel, sagte sie und fuhr mit einem Finger über seine runde Wange.
»Ich will noch mehr hören, Mutter.«
»Du hast die Geschichte doch schon hundertmal gehört.« Sie stopfte ein Laken unter seinem Kinn fest. Es handelte sich um eine Geschichte, die Raphael sie ihrem Sohn dutzende Male hatte erzählen hören. Es ging darum, wie sie einander zum ersten Mal begegnet waren, oder, wie sie es zu nennen pflegte, »Wie ich der Liebe meines Lebens begegnet bin«, und darum, wie er eine Zeit lang verschwunden war und dann ihretwegen zurückgekommen war. Das war für gewöhnlich sein Schlüsselwort, hereinzuplatzen und zu sagen: »Und ich überzeugte deine Mutter davon, mich zu heiraten.« Dann fügte Jeremiel stets hinzu: »Damit ihr mich kriegen konntet.«
Es war ein allabendliches Ritual, von dem er nie genug bekam.
»Einmal noch?« Jeremiels Stimme war kaum lauter als ein Flüstern und ihm sank der Kopf auf die Brust. »Bitte.«
»Morgen Abend, mein Sohn. Wir haben einen Gast, um den wir uns kümmern müssen.« Rebecca sprach mit leiser, melodischer Stimme.
»Onkel Luzifer?«
Raphael sah, wie sich ihr Gesicht beim Klang des Namens seines alten Freundes anspannte. Über die Jahre hatte Luzifer sie von Zeit zu Zeit besucht. Er hatte immer gemischte Gefühle darüber, ihn zu Besuch zu haben, zumal er das Gefühl hatte, dass er Luzifer etwas schuldete. Ohne ihn hätte er nie den den Mut besessen, zurückzukehren. Vermutlich würde er immer noch heimlich Blicke von der Brücke werfen und leiden, während er dabei zusähe, wie Rebecca Bakas Sohn gebar. Ohne ihn hätte Jeremiel nie existiert und allein deshalb schon empfand er Luzifer gegenüber ein Gefühl der Verpflichtung.
Gleichzeitig nagte Schuldbewusstsein an seinem Gewissen wegen der Versprechen, die er gemacht und gebrochen hatte. Wenn er mit seiner Familie allein war, brachte er es fast fertig zu vergessen, dass er ein gefallener Erzengel war. Dann kam Luzifer wieder nach Ai und er wurde erneut mit der Realität dessen konfrontiert, was er getan hatte. Dankenswerterweise reiste sein Freund viel. Was er dabei tat… Raphael zog es vor, nicht einmal daran zu denken.
Gelegentlich begleitete Uriel Luzifer auf seinem Besuchen bei ihm und seiner Familie. Die Last des Versprechens, das er Rachel gegeben hatte, lag schwer auf seinem Herzen – umso mehr, wenn er daran dachte, dass er sein Glück gegen ihren Schmerz eingetauscht hatte.
Luzifer schien seine traurige Stimmung immer zu erahnen und tat, was er konnte, um ihn davon zu überzeugen, dass das, was er getan hatte, nicht schlimm war. Er wusste nichts von dem Versprechen, das Raphael Rachel gegeben hatte.
Luzifers Worte trösteten ihn einigermaßen, besonders, als er ihm sagte, dass er Rebeccas Leben besser gemacht hatte, als er sie geheiratet hatte. Dass er es aus Liebe getan hatte. Obwohl Luzifer selbst darauf hinwies, dass er sich nicht um Menschen sorgen würde, wie Raphael es tat, war es doch zumindest in Raphaels Herzen aus Liebe gewesen. Wie konnte das eine Sünde sein?
Raphael war beinahe von Luzifers Argumenten überzeugt gewesen, bis Rebecca begann, sich in Luzifers Gegenwart merkwürdig zu verhalten. Anfangs war Rebecca ihm gegenüber eine zuvorkommende Gastgeberin gewesen. Dann hatte sich etwas verändert, besonders, nachdem Jeremiel zur Welt gekommen war. Raphael konnte spüren, dass sie sich in Luzifers Anwesenheit nicht wohlfühlte. Er versuchte, sie diesbezüglich zum Sprechen zu bewegen, aber sie mied das Thema stets.
»Ja – dein Vater wird heute mit ihm abendessen«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln im Gesicht.
»Ich will Onkel Luzifer sehen.« Jeremiel gähnte erneut.
»Hat da jemand meinen Namen genannt?«
Raphael fühlte, wie ihm eine kalte Hand auf die Schulter schlug. »Ich hoffe, es macht euch nichts aus«, sagte Luzifer und trat an Raphael vorbei. »Ich wollte dem Jungen gute Nacht sagen. Ich sehe ihn so selten. Rebecca.« Er nickte ihr grüßend zu.
Rebeccas Schultern verkrampften sich und sie blieb einen Moment lang reglos stehen. Sie sah Raphael an und dann hinab auf Jeremiel, bevor sie seinen Gruß erwiderte.
»Luzifer«, sagte sie.
Er trat an Jeremies Bett. »Du bist das Ebenbild deines Vaters.« Er zerwuschelte dem Jungen das Haar.
»Kommst morgen mit uns zum Fischen?«, fragte Jeremiel und rieb sich mit dem Handrücken die Augen.
Luzifer drehte sich zu Raphael um und hob eine Braue. »Ich glaube nicht.«
Jeremiel wurden die Lider schwer. »Du kannst mitkommen. Kann er doch – oder, Vater?«
Rebecca warf Raphael einen Blick zu, aber bevor er etwas sagen konnte, warf Luzifer ein: »Diesmal nicht. Ich habe andere Pläne.«
Jeremiel runzelte die Stirn und seine Lider senkten sich. »Kann ich mit euch aufbleiben?«
»Nein, Jeremiel«, erklärte Rebecca. »Es ist Schlafenszeit für dich. Außerdem hast du morgen einen großen Tag mit deinem Vater vor dir. Du willst doch nicht, dass er dich zurücklassen muss, wenn er aufbricht, oder? Jeremiel?«
Er stieß ein leises Schnarchen aus.
Sie lächelte und küsste ihn auf die Stirn.
»Er ist endlich eingeschlafen.« Sie erhob sich vom Bett und trat mit Bedacht um Luzifer herum, der immer noch auf Jeremiel hinabblickte. »Euer Abendessen ist gleich fertig.«
Als sie aus dem Raum eilte, hielt Raphael sie am Arm fest.
»Geht es dir gut?«, fragte er und suchte ihren Blick.
»Natürlich«, entgegnete sie. Ihre haselnussbraunen Augen nahmen einen sanften Ausdruck an, als sie eine Hand an seine Wange legte. »Bitte genieß den Besuch deines Freundes.«
Als sie das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Luzifer mit leiser Stimme an Raphael. »Hat er Gaben?«
Raphael sah kurz in die Richtung, in der Rebecca verschwunden war, trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Luzifer, ich habe dir schon zuvor erklärt, dass das nicht zur Diskussion steht.«
»Sicher hast du dich auch schon gefragt, ob dein Sohn dieselben Gaben besitzt wie wir.« Luzifer setzte sich auf die Bettkante. Seine schlanken Finger strichen über Jeremiels Gesicht. »Er hat das Aussehen eines Engels.«
»Seine Gaben sind mir nicht wichtig.«
»Das sollten sie aber.«
»Ich sehe nicht ein, weshalb.«
»Denk nur daran, was es bedeuten würde, wenn er welche hätte. Halb Mensch, halb Engel. Er könnte ein Gott unter den Menschen sein.«
Raphaels Nasenflügel weiteten sich. »Ich werde meinen Sohn dazu erziehen, alle als seinesgleichen zu achten.«
»Du bist ein Narr, Raphael. Wenn dein Sohn die Gaben der Engel hat, bedeutet das, dass andere Nachkommen von dir sie auch haben können. Stell dir das mal vor. Mit deinen Söhnen an deiner Seite könntest du ein Heer aufstellen, das unbesiegbar wäre.«
Raphael knirschte mit den Zähnen. »Du vergisst dich, Luzifer.«
»Vergib mir. Ich meinte, kein menschliches Heer. Wenn du dir wegen der anderen Erzengel Sorgen machst – darüber musst du dir keine Gedanken machen. Sie hätten schon längst etwas unternommen.«
»Im Himmel ist erst wenig Zeit verstrichen – erst Tage, seitdem wir fortgegangen sind. Du weißt, dass die Zeit dort langsamer verstreicht.«
»Ja, ja.« Luzifer winkte ab. »Wenn unser Verschwinden ein Problem wäre, hätte Michael in dem Moment etwas dagegen unternommen, in dem wir ohne seine Erlaubnis fortgegangen sind. Und selbst jetzt, wo Uriel durch die Gegend zieht und, wie es scheint, die Hälfte der weiblichen Bevölkerung der Erde schwängert, würde man eigentlich mit einem Eingreifen irgendeiner Art rechnen.«
Rachels Gesicht blitzte in Raphaels Gedanken auf. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, als vor ihm das Bild aufstieg, wie sie von der Brücke aus nach Uriel Ausschau hielt. Uriel war selbstsüchtig und verdiente ihre Liebe nicht. Dann wiederum – er war es auch.
»Diese Frauen und ihre Kinder, sind sie – ?« Raphael konnte nicht leugnen, dass er neugierig war. Jeremiel war noch klein, aber an ihm zeigten sich bereits die Gaben, die auch Engel besaßen. Er war stärker als andere Kinder seines Alters, größer, schneller – und bei der Geschwindigkeit, mit der er wuchs, würde er noch vor seinem zehnten Lebensjahr in der Lage sein, es mit der Kraft erwachsener Männer aufzunehmen.
»Alles Mädchen. Nutzlos.« Luzifer spuckte aus. »Sie alle sind wenige Stunden nach ihrer Geburt gestorben, und ihre Mütter mit ihnen.«
»Sie sind bei der Geburt gestorben?« Er dachte an Rebecca und daran, wie sie sich bei der Geburt verausgabt hatte. Er hatte sich gesorgt, dass sie es nicht überleben würde.
»Es war ein Akt der Gnade. Die Frauen wären wegen einer Geburt außerhalb der Ehe gesteinigt worden.«
»Und was ist mit Uriel? Wie konnte er weiterhin all diesen Frauen beiliegen in dem Wissen, dass sie bei der Geburt seiner Kinder sterben würden?«
»Er hat nicht einmal gewusst, dass sie mit seinen Kindern schwanger waren. Unwissender Narr. Er war fort, bevor überhaupt die Sonne über ihren Betten aufging. Uriel schuldet mir viel, denn ich habe die Sauereien, die er zurückgelassen hat, beseitigt. Sobald eine Familie erfährt, dass ihre Tochter unverheiratet ein Kind empfangen hat, wird sie verstoßen. Ich habe ihnen eine Unterkunft bis zur Geburt ihres Kindes verschafft.«
»Wieso? Weshalb solltest du so etwas tun?« Raphael sah ihn misstrauisch an. Luzifer hatte immer deutlich gezeigt, wie sehr er auf die Menschen herabsah.
Luzifer winkte bei seiner Frage ab. »Sagen wir, ich habe Uriel einen Gefallen getan. Nun, wo war ich stehen geblieben… Ah ja, dein Sohn und seine Engelsgaben.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er welche hat.«
»Ich kann in deinem Gesicht gut lesen, mein alter Freund. Du solltest stolz sein. Stell dir vor: Mit mehr Söhnen könntest du über die Welt herrschen.«
»Ich bin nicht hierhergekommen, weil ich Söhne zeugen wollte. Ich betrachte das, was ich habe, als einen Segen. Ich will nur mit meiner Familie in Frieden leben. Der Traum vom Herrschen ist deiner, nicht meiner. Ich werde damit nichts zu tun haben.«
Luzifer schüttelte den Kopf. »Nach all dieser Zeit betrachtest du die Menschen immer noch als uns gleichgestellt.«
»Ja. Das ist etwas, was ich immer glauben werde.«
Luzifer lachte. »Mein lieber Raphael, eines Tages wirst du den Fehler in deinem Denken erkennen. Du wirst einsehen, dass wir dazu bestimmt sind, über die Menschen zu herrschen. Nicht heute, aber eines Tages wirst du es. Jetzt lass uns essen. Ich bin am Verhungern.«


Nach der Mahlzeit und lange, nachdem Luzifer sie verlassen hatte, schloss Raphael Rebecca in seine Arme, als sie auf dem Dach lagen und zu den Sternen aufsahen.
»Du hast heute Abend nicht viel gesagt«, begann er.
Einen Moment lang versteifte sich ihr Körper. Dann entspannte sie sich. »Nicht weniger als sonst auch. Ich wollte dein Gespräch mit Luzifer nicht unterbrechen.«
»Du magst ihn nicht.«
»Er ist dein Freund.«
Sanft löste Raphael sie von seiner Brust. Er blickte ihr in die Augen. »Sag es mir, Rebecca. Sag mir, was los ist.«
Sie senkte den Blick und ihre schwarzen Wimpern hoben sich auf ihren Wangen ab. Sie war so schön. Er hasste es, sie so zu sehen, aber er musste es wissen. Während des gesamten Abendessens hatte sie kein Wort gesagt. Das war für sie völlig untypisch.
»Hat Luzifer etwas zu dir gesagt?«
Es war möglich, dass Luzifer versucht hatte, von ihr Informationen über Jeremiel zu bekommen. Sie waren vor langer Zeit übereingekommen, Jeremiels Gaben und seine Herkunft geheim zu halten. Sie wollten, dass er so behandelt wurde, wie alle anderen in der Gemeinschaft auch.
»Nein. Er hat nicht mit mir gesprochen. Es ist nur… er…« Ihre Wangen färbten sich rot.
»Was ist es?« Raphael legte eine Hand unter ihr Kinn und hob es an. Ihre Augen begegneten seinem Blick und einen Moment lang dachte er, sie würde etwas sagen, als sie plötzlich den Atem ausstieß.
»Im Grunde ist es nichts weiter. Es ist nur… Jeremiel wird älter und ich erkenne so viel von dir in ihm und seinen Wesenszügen als Sohn eines Erzengels. Luzifer zu sehen erinnert mich an die Macht, die du hattest und die du aufgegeben hast, um mit mir zusammen zu sein und dann frage ich mich…«
»Was fragst du dich?«
»Ich frage mich, ob du es manchmal bereust.«
Raphael musterte ihr Gesicht. Er hatte das Gefühl, dass da noch mehr war, das sie ihm nicht verriet. Es sah ihr nicht ähnlich, etwas vor ihm geheim zu halten.
»Überhaupt keine. Du etwa?«
Er hielt den Atem an, als sie einen Augenblick lang zu Boden sah und zögerte.
»Nur eines tut mir leid.«
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
»Du bereust, mich geheiratet zu haben?« Er brachte die Worte kaum heraus.
Ihre Augen blitzten ihn an. »Nein. Oh nein. Das bereue ich nicht. Ganz und gar nicht.«
Sein Herz begann wieder zu schlagen. »Was ist es dann?«
»Es ist Baka.«
»Baka?«
»Eigentlich ist es mehr Jaels als Bakas wegen. Keine Frau sollte so leiden, wie sie es durch seine Hand tut. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich dem Himmel nicht dafür danke, dass er dich geschickt hat und dafür, dass du mich liebst. Ohne dich wäre ich an Jaels Stelle.«
Gelegentlich begegnete er der dunkelhaarigen Frau, die Baka geheiratet hatte, nachdem Raphael Rebecca zur Frau genommen hatte. Jael und Rebecca hatten ähnliche Gesichtszüge und man hätte sie für Schwestern halten können – nur, das Jael größer war und ihre Augen schwarz anstatt haselnussfarben. Es war nicht überraschend gewesen, dass Baka Jael gewählt hatte. Was ihn überrascht hatte, war, dass er sie innerhalb weniger Tage nach Raphaels und Rebeccas Hochzeit geheiratet hatte.
»Er tut ihr doch nicht weh, oder? Er schien stolz zu sein, als er seinen Sohn vorgeführt hat.« Bakas Sohn war wenige Tage vor Jeremiel zur Welt gekommen und Baka hatte alles getan, damit jeder in der Stadt von seinem neugeborenen Sohn, Saleos, erfuhr.
»Nein, aber das heißt nicht, dass sie nicht leidet. In diesem Haus gibt es keine Liebe, zumindest nicht für sie. Er liebt nur, was sie ihm und seinem Status in der Stadt bringen kann. Man hat mir erzählt, dass sie wieder schwanger ist. Ich bete darum, dass sie ihm mehr Söhne schenkt. Es ist der einzige Anlass, zu dem er zumindest so tut, als liebte er sie.«
»Das ist es also, was dir leid tut. Du bereust nicht, dass du einen gefallenen Engel geheiratet hast? Oder dass deine eigene Familie dich meidet?«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Du hast mich in mehr als einer Hinsicht gerettet, Raphael. Mein Vater…« Sie schluckte schwer. »Mein Vater war wütend – und zu Recht, denn ich habe ihn vor der ganzen Stadt bloßgestellt, als er die Vereinbarung brechen musste, die er getroffen hatte, um mich mit Baka zu verheiraten. Mein Vater hat seine Verpflichtungen. Ich… ich verstehe das.«
Er wischte eine Träne beiseite, die ihr über die Wange lief. Dathan, Rebeccas Vater, war der Gouverneur von Ai und bekannt für seine Liebe zu Goldmünzen. Wie jemand wie er eine Tochter haben konnte, die so rein und lieblich war wie Rebecca entzog sich seinem Verständnis. Nichtsdestotrotz liebte sie ihren Vater. »Ich könnte zu Dathan gehen und ihn um Vergebung bitten.«
»Nein, bitte tu das nicht. Mein Vater hat seine Wahl getroffen und ich die meine.«
Sie streckte die Hand aus und legte sie an seine Wange. »Du bist jetzt meine Familie. Du hast mir einen Sohn geschenkt, der in seiner Wesensart und Güte ist wie du. Wenn ich das alles noch einmal entscheiden müsste, würde ich es wieder tun. Es gibt nur eine Sache, um die ich dich bitten möchte.«
»Alles. Worum auch immer du mich bittest, ich werde es dir gewähren.«
»Versprich mir, dass du über Jeremiel wachen wirst, wenn ich… nicht mehr bin.«
Bei ihren Worten stockte ihm der Atem. Es war eine stumme Übereinkunft zwischen ihnen, dass sie nie über den Tod sprachen. Das war etwas, das ihm zu unerträglich war, um auch nur daran zu denken. Er wusste, dass sie eines Tages sterben würde und wenn sie es täte, würde sie in den Teil des Himmels gelangen, den nur Menschen erreichen konnten – die Erzengel lebten anderswo mit den Seraphim und Schutzengeln.
»Rebecca«, krächzte er. »Von solchen Dingen darfst du nicht sprechen. Du hast noch Jahre, Jahrzehnte, bevor… es so weit ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das müssen wir, Raphael. Bitte. Es würde mich so sehr trösten, zu wissen, dass Jeremiel bei dir sein wird. Das wird er doch, oder?«
»Ich weiß es nicht.« Das Einzige, was er wusste, war, dass Jeremiel ungewöhnlich große Kräfte und ein überdurchschnittliches Hör- und Sehvermögen besaß. Er wusste nicht, ob ein Halbengel zu sein mit Unsterblichkeit einherging.
»Kannst du… gibt es jemanden, den du fragen kannst?«
Raphael seufzte, als er an Gabrielle dachte. Wenn es jemanden gab, der Michael davon überzeugen konnte, seinen Halbengel-Sohn mit den anderen Engeln leben zu lassen, dann wäre sie es.
»Ja. So jemanden gibt es.« Er schloss sie in die Arme. »Ich verspreche, dass, wenn die Zeit kommt, ich für ihn bitten werde – und für dich.«
»Nein, tu das nicht. Ich bin es nicht wert. Jeremiel ist einer von euch. Versprich es mir nur für ihn.«
»Ich verspreche es.«
»Mehr will ich gar nicht.« Sie beugte sich vor und presste ihre warmen Lippen auf die seinen.
Raphael zog sie in die Arme. Ihr Duft erfüllte seine Sinne und er vergaß alles, was mit dem Tod, Luzifer und Baka zu tun hatte. Da war nur sie bei ihm. Sie waren zusammen. Und in der warmen Abendluft mit nur den Sternen als Zeugen zeigte er ihr, wie sehr er sie liebte.

7
Nachdem Rebecca Raphael und ihren Sohn zum Abschied geküsst hatte, ging sie durch das Haus und suchte zusammen, was sie für ihren täglichen Ausflug zur Wasserquelle von Ai brauchte. Summend verließ sie das Haus, einen Wasserkrug auf dem Kopf tragend.
Eine Last war von ihr abgefallen, jetzt, wo Luzifer fort war. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, das sie nervös machte, wenn er in der Nähe war. Als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie geglaubt, er sei bescheiden und gutherzig wie Raphael. Sie beide besaßen dieselbe überirdische Schönheit, von der sie vermutete, dass die meisten Engel sie besaßen. Luzifers dunkles Äußeres war ebenso attraktiv wie Raphaels blassgoldenes. Da endete die Ähnlichkeit auch schon. Er war ganz und gar nicht wie Raphael.
Er unterschied sich sogar vom reizenden Uriel. Anders als Uriel, der ihr überschwänglich zu schmeicheln pflegte und sie stets zum Erröten brachte, wenn er zu Besuch war, schenkte Luzifer ihrer Existenz nicht die geringste Beachtung. Erst als sie mit Jeremiel schwanger war, begann er auf sie aufmerksam zu werden – und nicht auf eine gute Weise. Nachdem sie Jeremiel schließlich geboren hatte, kam er sogar noch öfter zu Besuch. Er sah sie nicht auf die Weise an, wie Baka es tat, wenn sie ihm überraschend in der Stadt begegnete – mit Blicken, die ihren Körper verschlangen und sie sich nackt fühlen ließen. Stattdessen musterte Luzifer sie voller Neugier, als sei sie ein Mistkäfer.

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